Der göttliche Weltenplan

Inwiefern gehören das Böse und das Christus-Prinzip zur Weltenentwicklung dazu?

Was hat die zweischneidige Ich-Natur des Menschen damit zu tun?

Was ist Ziel des göttlichen Weltenplanes?

Das Böse und das Christus-Prinzip

Beim Lesen der Apokalypse erschüttern uns die ungeheuren Visionen des Bösen, die Schrecknisse bestialischer Ausbrüche der Menschennatur, die zunächst so unversöhnlich neben den Offenbarungen des Christus-Prinzips zu stehen scheinen. Und genau das weist auf die Mysterien des Willens hin (vgl. Mysterien und Initiation: Mysterien des Willens). Denn der Wille basiert auf der Stoffwechseltätigkeit des Menschen, dem das Geheimnis des Kranken, der Zerstörung, des Bösen ebenso zu Grunde liegt, wie das Geheimnis der heilenden und aufbauenden Kräfte (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Physiologie des Egoismus).

Es gehört zu den tiefsten Rätseln des Christentums, dass dem Mysterium von Golgatha der Passionsweg beigegeben ist (vgl. Christus heute: Christentum und Martyrium). Das heißt, dass Folter, Martyrium und gewaltsamer Tod, begleitet von Hass, Hohn und Spott, als die Offenbarungen der bösen Möglichkeiten der menschlichen Natur, „dazugehören“. Dieses Rätsel lässt sich lösen, wenn wir in der Ich-Natur des Menschen dieses zweischneidige Schwert erkennen, von dem in der Apokalypse die Rede ist.1 Diese Zweischneidigkeit hat mit der Freiheitsfähigkeit des Ich zu tun (vgl. Identität und Ich: Die Ich-Natur des Menschen - ein zweischneidiges Schwert):

Freie Entscheidung für den mittleren Weg

Der Mensch muss immer wieder neu und geistesgegenwärtig die für den Augenblick stimmige Entscheidung aus seinem Ich heraus treffen sodass ein mittlerer Weg erlebbar und sichtbar werden kann. Dieser Weg führt zwischen Willkür und Zwang, Hochmut und Selbstaufgabe, Verschwendung und Geiz, Tollkühnheit und Feigheit, den eigenen Bedürfnissen und denen des sozialen Umkreises mitten hindurch. Es gibt nicht die Wahl zwischen Gut und Böse, sondern immerfort das Ringen um einen Gleichgewichtszustand zwischen zwei Extremen (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Das Geheimnis des Bösen im Spiegel der Apokalypse), dem luziferisch Bösen und dem ahrimanisch Bösen, die nur „böse“ wirken, solange sie keinen heilsamen Ausgleich erfahren.2 So darf es auch nicht wundern, dass die Abirrungsmöglichkeiten und Schrecknisse, die infolge der Ich-Begabung im Laufe der Menschheitsentwicklung noch auftreten werden, bildhaft in diesen apokalyptischen Schilderungen vorweggenommen sind. Sie sollen gerade nicht dazu führen, uns verzagt zu machen, sondern vielmehr den Willen befeuern, das Gute zu wollen3 – und entsprechend zu handeln.

Gemeinschaft freier Iche als Ziel

In seinem Vortrag vom 25. Juni 1908 im Zyklus „Die Apokalypse des Johannes“ sagt Rudolf Steiner: „Die wahre anthroposophische Weltanschauung kann nur als Endziel die Gemeinschaft der selbständig und frei gewordenen Iche, der individuell gewordenen Iche hinstellen. Das ist ja gerade die Erdenmission, die sich durch die Liebe ausdrückt, dass das Ich dem Ich frei gegenüberzustehen lernt. Keine Liebe ist vollkommen, die hervorgeht aus Zwang, aus dem Zusammengekettetsein. Einzig und allein dann, wenn jedes Ich so frei und selbständig ist, dass es auch nicht lieben kann, ist seine Liebe eine völlig freie Gabe. Das ist sozusagen der göttliche Weltenplan, dieses Ich so selbständig zu machen, dass es aus Freiheit selbst dem Gott die Liebe als ein individuelles Wesen entgegenbringen kann. Es würde heißen, die Menschen an Fäden der Abhängigkeit zu führen, wenn sie irgendwie zur Liebe, wenn auch nur im Entferntesten, gezwungen werden könnten. So wird das Ich das Unterpfand sein des höchsten Zieles der Menschen. So ist es aber zu gleicher Zeit, wenn es nicht die Liebe findet, wenn es sich in sich verhärtet, der Verführer, der ihn in den Abgrund stürzt. Dann ist es dasjenige, was die Menschen voneinander trennt, was sie aufruft zum großen Krieg aller gegen alle, nicht nur zum Krieg der Völker gegen die Völker.“4 (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierung und Gemeinschaftsbildung).

Bewusstsein von der Schwelle zur geistigen Welt wecken

Was uns schützt vor dem Sturz in den Abgrund, ist das Ringen um Gleichgewicht, um den Mittelpunkt unseres Menschseins, den wir in der Christus-Wesenheit ahnen können. Dieses Mittelpunkt-Erlebnis ist dann zugleich die bewusste Schwellenerfahrung, das Erleben der Brücke zwischen der Sinnes- und Geisteswelt.

„Das Höchste, das uns gegeben werden kann, ist die Botschaft von Christus Jesus. Wohl müssen wir sie aufnehmen, und nicht bloß mit dem Verstand. Wir müssen sie in unser Innerstes aufnehmen, wie man die Nahrung im physischen Leibe aufnimmt.“5

Die große gemeinsame Aufgabe, die die Mitglieder verbindet in der anthroposophischen Gesellschaft seit der Weihnachtstagung, ist, das Bewusstsein von der Schwelle zur geistigen Welt in der gegenwärtigen Menschheit wecken zu helfen. Immer mehr einzelne Menschen sollen zu sich selbst finden und den Anschluss gewinnen an die großen Ziele und Aufgaben der Menschheitsentwicklung. Dabei möchte die Anthroposophie helfen. Dazu ist es aber auch nötig, dass möglichst viele Menschen das soziale Bauwerk erkennen und ernst nehmen können, das Rudolf Steiner vor seinem Tode noch begründen konnte als „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ (vgl. Anthroposophie: Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft) und „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“ mit ihren Sektionen (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Aufbau der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft). Dieses soziale Bauwerk bietet Übungsfelder, die helfen können, den Impuls der neuen Mysterien zu realisieren. Denn dieser kann überall da greifen, wo Gemeinschaftsbildung gelingt im Lichte der hier angedeuteten Zukunftsideale der Menschheit und wenn sich viele zur rechten Stunde vereinigen.7

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

  1. Neues Testament, Offenbarung des Johannes (Apokalypse), Kap. 1, 16.
  2. Rudolf Steiner, Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, GA 191, 1989;
    Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, GA 11, Dornach 1986.
    In der Bibel wird von Diabolos (Luzifer) und Satanas (Ahriman) gesprochen.
  3. Peter Selg, Die «Wärme-Meditation». Geschichtlicher Hintergrund und ideelle Beziehungen, Dornach 2005.
  4. Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes, 12 Vorträge 1908, GA 104.
  5. Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes, GA 104, Dornach 1985, S. 162.
  6. Ebenda, S. 173.
  7. Zitat aus Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie.