Die sieben Kulturepochen

Gibt es konkrete Lernschritte, die den einzelnen Entwicklungsepochen der Menschheit zuzuordnen sind?

Wie lassen sich die Kernaufgaben beschreiben?

Lernschritte in der Menschheitsentwicklung

  • 1. Das Geheimnis des Abgrundes

Das erste Schwellengeheimnis, der erste Lernschritt, mit dem die Menschheit zu ringen hatte, war das „Geheimnis des Abgrundes“. Es geht zurück auf die urindische Kulturepoche, wo der Mensch aus seinem vollkommenen Geistbewusstsein herunter „gedimmt“ wurde durch die physische Konstitution, durch ein erstes Sich-Entwickeln der physischen Sinnesorgane. Die Sinnesorgane begannen den Geist, der hinter allem liegt, einzutrüben und zu verschleiern. Was in der Literatur der indischen Tradition „Maya“ genannt wird, der materielle Schein, der sich vor das betrachtende Bewusstsein schiebt, wurde damals als das „Geheimnis des Abgrundes“ erlebt, als würde der Mensch in den Abgrund der eigenen Existenz gestürzt. Man wusste plötzlich nicht mehr alles über sich und die Welt. Man erlebte sich in seiner Identität nicht mehr selbstverständlich als göttlichen Ursprungs. Die Möglichkeit, das Materielle zu erfassen, schob sich als ein Inhalt dazwischen, der eine Trübung des Bewusstseins bewirkte. „Maya“ machte die Grenze zwischen Stoff und Geist erfahrbar, denn die Menschheit musste lernen, geistige Schau und sinnliche Wahrnehmung zu unterscheiden.

  • 2. Das Geheimnis der Zahl

In der persischen Kulturepoche wurde das geheimnisvolle „Schwellenerlebnis der Zahl“ möglich. Zahlen stehen für Ordnung und die Fähigkeit zu ordnen. Zum ersten Mal war das Denken so kompetent entwickelt, dass es als Regulativ erkannt wurde – im reinen Denken in Zahlen, in ganz klaren Gesetzmäßigkeiten. Dadurch erlebte der Mensch erstmals die Schwelle zwischen Denken und Sinnesanschauung, d.h. zwischen der Kraft, die das sinnlich Wahrgenommene zählt, ordnet und erläutert und den Sinnesanschauungen selbst. Es ging darum, geordnetes Denken und ungeordnete Lebenswirklichkeit unterscheiden zu können. Man begann in der Folge zwischen Licht und Finsternis zu unterscheiden, zwischen der Lichtwelt des Ahura Mazdao, der reinen Gedankenwelt, und der Welt der Finsternis, der Welt des Ahriman.

  • 3. Das Geheimnis der Alchemie

In der dritten Kulturepoche entstand als Folge der vorangegangenen wiederum eine völlig neue Bewusstseinslage: Erstmals traten Krankheitszustände auf. Aus den davor liegenden Kulturen und aus allem, was davon überliefert ist, kennen wir nur die Lehre von der Gesundheit. In der ägyptischen Kultur aber trat das so genannte „Schwellengeheimnis der Alchemie“ auf: Aus dieser Kulturepoche sind uns schon genaue Beschreibungen von Krankheiten und von Arzneimitteln, von Salben und Kräutern aus den Naturreichen überliefert. Der Name Alchemie stammt aus dem Arabischen, aus Ägypten. Es ist auch die Zeit des Sündenfalls und des Alten Testaments.

Zum ersten Mal erlebte der Mensch die Schwelle zwischen Krankheit und Gesundheit. Er erlebte die Ohnmacht angesichts der Krankheit, die er auch in ihrer spirituellen Bedeutung als ein Ereignis erfuhr, an dem er mit seinem Willen scheiterte. Er musste lernen hinzuhören, was ihm dieses schicksalhafte Ereignis offenbaren wollte. Aus dem Krankheitserleben ergab sich erstmals die Möglichkeit, individuelle Initiationserfahrungen zu machen; denn Krankheit wurde seit jeher auf sehr persönliche Art durchlebt, was bedeutend zur Individualisierung des Menschen beigetragen hat.

  • 4. Das Geheimnis des Todes

In der vierten Kulturepoche trat die Menschheit an der Todesschwelle. Mit dieser Kulturepoche dringt die Menschheit über die Entwicklung des „Todesbewusstseins“, des Bewusstseins ihrer Sterblichkeit, zum Ich-Kern vor – es ist die Zeit des Neuen Testaments. Christus bringt die Botschaft von der Auferstehung und versucht zu vermitteln, dass „richtig leben“ heißt, sich wieder seiner spirituellen Natur bewusst zu werden.

Durch das totale Unverständnis der Tatsache des Todes als ein Ereignis, das man spirituell nicht mehr wirklich durchschauen konnte, wurde das berühmte Wort formuliert: „Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt als ein König im Reich der Schatten.“

Die Auseinandersetzung mit dem „Rätsel des Todes“ und dem, was danach kommt, beherrschte diese ganze Kulturepoche und hat ebenfalls entscheidend dazu beigetragen, dass das Bewusstsein der Menschen sich individualisierte.

Rudolf Steiners Impuls, über die alten Mysterien Vorträge zu halten (vgl. Mysterien und Initiation: Über die alten Mysterien), war mit der Hoffnung verbunden, dass uns von den Erfahrungen aus früheren Inkarnationen so viel wie möglich wieder ins Bewusstsein steigt, um uns zu unterstützen, wenn wir unter den heutigen Bedingungen den Initiationsweg beschreiten (vgl. Mysterien und Initiation: Mysterien des Willens).

Heute sind Tod, Alchemie und Zahlen fester Bestandteil unserer Kultur – im Computerzeitalter ist alles digital, wird alles gezählt! Diese Themen sind keine Geheimnisse mehr, sondern allgemeines Kulturgut. Auch der „Abgrund des Seins“ ist eine selbstverständliche Erfahrung, schon für Kinder, wenn sie die Ohnmacht und das Eingeschlossen-Sein im „Kerker des Nicht-so-Könnens-wie-sie-wollen“ erleben. Dieser Abgrund ist überall zu spüren.

Diese Erfahrung gibt den Menschen heute nicht mehr den entscheidenden Anstoß, sich auf den Weg der inneren Schulung, der inneren Entwicklung, der Einweihung zu machen.

  • 5. Das Geheimnis des Bösen

In der fünften Kulturepoche fordert uns etwas anderes heraus: das „Geheimnis des Bösen“, das Geheimnis der Destruktivität. In dieser Kulturepoche befinden wir uns gerade. Sie hat das Böse und seine Bedeutung für die Entwicklung des Menschen zum Thema (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Das Geheimnis des Bösen im Spiegel der Apokalypse). Wir können ahnen, was auf uns als Menschheit zukommt, wenn nicht genügend Menschen am Bösen aufwachen für das Gute. Aufwachen hat immer mit Eigenaktivität und Anstrengung zu tun – das könnte uns als Wegweiser dienen.

Die Kräfte des Bösen mitsamt ihren Auswirkungen sind immer stärker zu erleben. Das ist ein Thema, an dem viele verzweifeln, weil sie es nicht verstehen und nicht verarbeiten können. Die Sprechstunden in unseren Therapiezentren sind voll von Menschen, die krank werden, weil sie mit dem Bösen in sich und in anderen, mit dem Destruktiven in der Wirtschaft, in der Politik und dem Zerstörerischen, das sich in der Umweltproblematik ausdrückt, nicht mehr zurechtkommen.

Wir brauchen eine Initiationswissenschaft vom Bösen – die Anthroposophie will eine mögliche Antwort sein, so wie im christlichen Kulturkreis die Apokalypse des Neuen Testaments als eine Vorschau auf Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Bösen verstanden werden kann. Rudolf Steiner sagte sinngemäß: „Das Böse ist nicht dazu da uns zu zermalmen, zu zerstören und zu zerbrechen; es ist das Schwellengeheimnis der modernen Menschheit und soll den Menschen auf den Weg der Initiation bringen“.

In der medizinischen und therapeutischen Arbeit sind wir ganz unmittelbar aufgerufen, uns mit dem Mysterien-Geheimnis unserer Zeit auseinanderzusetzen. Dieses Bemühen stand hinter der Zusammenarbeit zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman: Sie bemühten sich, die Kräfte der Zerstörung, die sich in Krankheiten äußern, aber auch die Kräfte der Überwindung des Kränkenden und Krankmachenden wirklich zu verstehen. Es ging ihnen nicht um ein träumendes, atavistisches Heilwissen, sondern um ein voll bewusstes Begreifen der Zusammenhänge rund um die Frage, warum der Mensch erkrankt: dass der Mensch erkrankt, weil er das Böse als „Möglichkeit zum Irrtum“ in sich trägt.

Es gibt – und das ist für uns Ärzte sehr wichtig – noch zwei weitere Mysterien-Geheimnisse, die nächsten Kulturepochen, die sechste und die siebente, betreffend:

  • 6. Das Geheimnis des Wortes

Die sechste Kulturepoche wird sich laut Rudolf Steiner mit dem „Geheimnis des Wortes“ auseinandersetzen. Bereits heute können wir ahnen, was alles geschehen kann durch ein falsches Wort in der falschen Tonart oder ein Wort am richtigen Platz. Das Wort bekommt in dieser Epoche wieder Substanz und Gültigkeit, bekommt Gewicht. Worte werden wieder der Verständigung dienen, anders als heute, wo es selten vorkommt, dass Menschen einander auf Anhieb gut verstehen. Heutzutage sind Missverständnisse durch Worte die Regel.

Die Kommunikation zwischen Menschen jenseits aller digitalen Gewohnheiten wird sich in Zukunft als kulturbildend und kulturzerstörend auswirken. Die Auswirkungen unserer heutigen, immer anonymer werdenden Kommunikation können uns als Vorbereitung helfen, schon jetzt im Hinblick auf die sechste Kulturepoche neue Möglichkeiten zu sehen und zu veranlagen: eine Kommunikation, die direkt von Mensch zu Mensch stattfindet, bei der man magisch, d.h., ganz echt und wesenhaft-substanziell, mit dem Wort umgeht, bei der man sich auf das zwischenmenschliche Wort verlassen kann. Dazu gehört auch das Wissen, dass Worte äußerlich gleich klingen mögen, aber je nachdem, wer sie sagt, wann sie gesagt werden und wo sie gesagt werden, vollkommen Verschiedenes bedeuten können. Es wird eine Sozialkultur sein, die auf die Kraft und Verbindlichkeit des Wortes aufgebaut sein wird.

  • 7. Das Geheimnis der Gottseligkeit

In der fernen Zukunft der siebten Kulturepoche, der so genannten „amerikanischen Kulturepoche“, geht es um das „Geheimnis der Gottseligkeit“ (vgl. Freude: Freude als Ziel von Entwicklung), das in scharfem Kontrast stehen wird zu dem „Kampf aller gegen alle“. Gottseligkeit ist die einzige Möglichkeit, das zu überbrücken, was den „Kampf aller gegen alle“ bis dahin notwendig macht (vgl. Christus heute: Christuserfahrung im Spannungsfeld von Krieg und Frieden). Der tiefere Sinn dieses Kampfes besteht darin, dass jeder einzelne Mensch lernt, sich in Freiheit an das Menschheitsganze anzuschließen. Dem stehen größtmögliche Widerstände entgegen, doch daran wird die Menschheit erwachen für das Initiationsprinzip dieser siebten Kulturepoche, das davon lebt, dass der individuelle Mensch sich über sein höheres Ich und über die Kulturarbeit am Wort in den vorausgegangenen Epochen so vertikalisiert, dass er den bewussten Anschluss an die geistige Welt wiederfindet und aus dieser Gottverbundenheit heraus allem gewachsen ist, was diese Kulturepoche an Problemen mit sich bringen wird. Der Mensch wird lernen, Gott wieder zu schauen – individuell und ganz bewusst.

Gottseligkeit heißt für mich auch, dass die göttliche Instanz sich freut, wenn wir sie erkennen. Die Freiheit kommt insofern ins Spiel, als es an uns als geistige Wesen liegt, inwieweit wir uns selbst entwickeln (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit). Als Teil der Natur haben wir diese Wahl nicht – der Naturentwicklung wird quasi die Selbstentwicklung hinzugefügt. Wir brauchen und haben Zeit, uns dahin zu entwickeln.

Vgl. Vortrag „Anthroposophische Medizin und ihre Wirkprinzipien“, 4. Okt. 2007