Mut und Demut

Inwiefern ist die Siegfried-Sage eine Erzählung über die Ich-Natur des Menschen?

Wie hängen Mut und Demut zusammen?

Weltweit überlieferte Erzählungen vom mutigen Ich

Nicht nur in den Evangelien, sondern auch in fast allen bedeutenden Urkunden der Volksweisheit, in den Märchen und Mythen, in den germanischen Götter- und Heldensagen oder in der Edda, findet man in der Gestalt des Königssohnes oder des Helden die Ich- Qualität als Mut-Fähigkeit dargestellt, mit der man allen Schrecken ins Auge schauen und „durch die Höllen gehen“ kann. Letztlich überliefern diese Mythen die Botschaft, dass das mutige Ich sich auf der Erde verwirklichen darf, kann und soll (vgl. Mut: Über Ursprung und Notwendigkeit von Mut).

Im mitteleuropäischen Kulturraum finden wir das Urbild des personifizierten Mutes in der Siegfried-Sage, die den oben geschilderten Ich- oder Mut-Begriff sehr gut ins Bild fasst. Siegfried wird als der Inbegriff des germanischen Helden dargestellt, dem es sogar gelang einen Drachen zu töten.

Siegfrieds Weg der Selbstermächtigung

Siegfried, der weder Vater noch Mutter kannte, wuchs im Wald bei Zwergen und Tieren auf. Es gab niemanden, der ihm aus Angst, ihm könnte etwas zustoßen, Dinge verbot. Was seine Erziehung betrifft, war er ganz auf sich gestellt. Dieser Umstand fasst das heute geltende Prinzip, dass man sich alles selbst aneignen muss, selbst wenn man etwas geschenkt bekommt oder erbt, ins mythologische Bild. Goethe formuliert dieses Prinzip mit den berühmten Worten, die er Faust sagen lässt: „Was Du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“.

So wuchs Siegfried furchtlos und naturverbunden heran, verstand die Sprache der Vögel, und wurde zunehmend mutig und stark wie eine elementare Urkraft. Er jagte wilde Tiere und brachte sogar Bären mit nach Hause – zum Entsetzen des Zwerges, in dessen Höhle er wohnte.

Schließlich fand Siegfried das zerbrochene Schwert seines Vaters, das diesem im Kampf gegen den Gott Wotan zerbrochen war. Denn sein Vater hatte nicht die Kraft gehabt, sich seinem Schöpferwesen, der Gottheit, in Freiheit gegenüberzustellen. Es ging nun die Sage, dass nur ein Held, der sich nicht fürchtet, in der Lage sein würde, dieses zerbrochene Schwert wieder zusammenzuschmieden. Schon viele Menschen hatten es versucht, aber es war immer wieder zerbrochen. Siegfried kam nun auf den genialen Gedanken, die Schwertstücke in ihre feinsten Bestandteile zu raspeln, sie dann einzuschmelzen und schließlich aus der „geschenkten“ Substanz des alten Schwertes ein neues, sein eigenes, zu schmieden.

Wahrbild der Ich-Natur

Treffender kann man das Geheimnis der menschlichen Ich-Natur kaum umschreiben: Wir Menschen werden geboren, sind quasi von Gott bzw. der Evolution Erschaffene und wachsen Kraft dieses Schöpfungsgeschenkes heran, bis wir eines Tages auf uns selbst gestellt sind.

Wahrhaft selbständig sind wir jedoch erst, wenn wir uns alles, was wir bisher vom Leben geschenkt bekommen haben, wie neu erwerben durch eigenes Interesse, eigenständige Liebe und echte Verbindlichkeit. Sonst stehen wir nicht wirklich auf eigenen Beinen, sind wir nicht ganz wir selbst. Jeder heranreifende Mensch muss das Schwert überkommener Werte aus eigenem Antrieb nochmals neu schmieden. Und fast jeder kennt das Erlebnis, dass es ihm dabei etwas zerbricht und er von vorne anfangen muss.

Die Sage von Siegfried und dem Schwert seines Vaters ist so gesehen ein Wahrbild für unsere Ich-Natur, die aus sich heraus den Mut aufbringen muss für die menschliche Erfahrung des „Stirb und Werde“.

Demut als Mut zur Unvollkommenheit

Die Fähigkeit, demütig sein zu können, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Grad an Mut, den man schon erlangt hat. Bei einem Kind können wir Demut noch als eine unbewusste Fähigkeit erleben, wenn es z.B. andächtig vor dem Weihnachtsbaum sitzt. Doch um als Erwachsener ehrfürchtig vor einer Wahrheit, einer Lebenstatsache oder auch vor Gott zu stehen, bedarf es einer ganz anderen Kraft, die auch Mut erfordert: Man muss lernen, die Angst vor der Wahrheit und auch vor Gott in wirkliche „Gottesfurcht“ zu verwandeln. Das ist nur durch Demut möglich.

Viele Menschen haben heute Angst vor der geistigen Welt. Man spürt die eigene moralische Unvollkommenheit so stark, dass schon der Gedanke, einem vollkommenen Wesen in die Augen schauen zu müssen, unerträglich ist. Das trifft auch auf die Menschen untereinander zu: Wie schwer fällt es einem, einen anderen, der weiterentwickelt ist als man selbst, ehrlich anzuerkennen! Wie leicht findet man etwas zu kritisieren, um sich von ihm distanzieren zu können. Unser Umgang miteinander wäre anders, wenn wir demütiger wären. Dass wir uns selbst zum Maßstab für die Beurteilung anderer machen, ist ein Indikator für unsere Mutlosigkeit: Denn es gehört Mut und Selbstsicherheit dazu, sich einem Größeren gegenüber nicht klein und unbedeutend zu fühlen.

Ein zeitgemäßer Ausdruck von Mut könnte sein, zu seiner Unvollkommenheit zu stehen, weil man weiß, dass das Ich etwas Werdendes ist, das sich erst noch schaffen muss und sich nicht zu schämen braucht, dass es noch nicht seine volle Kraft und Stärke entfaltet hat (vgl. Ideale: Konstruktiver Umgang mit Idealen). Die eigene Unvollkommenheit zu ertragen, erfordert Mut.

Deshalb besteht eine Möglichkeit, Mutlosen zu helfen, darin, ihnen Liebe und Zutrauen entgegenzubringen und dadurch ihre Selbstachtung und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Einem Kind wird durch das Rufen seines Namens oder nonverbal durch Zuwendung bei der Pflege oder durch die bloße Anwesenheit einer Bezugsperson Mut zugesprochen. Unter Erwachsenen muss in einer aufrichtigen Beziehung beides, Anerkennenswertes und Problematisches, offen zur Sprache kommen, wenn man sich auf der Ich-Ebene begegnen will.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 5. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997