Zukünftige Aufgaben der Religion

Was kann und soll Religion dem heutigen Menschen geben?

Was macht heute einen richtigen Christen aus?

Bisherige Aufgaben von Religionsgemeinschaften

In dem Ausmaß, in dem sich Menschen individualisieren, fallen sie aus überlieferten Wertekomplexen und -gemeinschaften heraus. Da stellt sich dann die Frage, was an die Stelle des Überlieferten tritt. Vielfach ist es eine Religionszugehörigkeit, vor allem in christlichen, buddhistischen oder muslimischen Zusammenhängen, weil das Religionen sind, die ein volks- und familienübergreifendes Selbstverständnis haben. Die jüdische und die hinduistische Religion sind stark national begründet. Bei ihnen gelten noch Wertesysteme, die die Familien und Völker zusammenhalten. Wohingegen die christliche Religion, die buddhistischen Strömungen und auch der Mohammedanismus, übergreifende globale Weltbewegungen sind. Sie bieten religiöse Wege, vor allem in Form von Übungen und Gebeten, im Rahmen einer Geistgemeinschaft an.

Die meisten Menschen halten die Isolation, die die Individualisierung mit sich bringt, noch gar nicht aus. Sie brauchen eine physische und/oder geistige Familie. Christliche, buddhistische und muslimische Religionen haben sehr viel für die Menschen getan, indem sie einen Übergang schufen zwischen der Zugehörigkeit zu den Volks- und Naturreligionen und dem Beschreiten eines individuellen Weges. Sie stehen in der Mitte zwischen diesen beiden Entwicklungspolen.

Traditionelle große Religionen auf dem Prüfstand

Es ist interessant, dass vor allem junge Leute zunehmend Probleme haben mit den traditionellen großen Religionen. Dazu ein Beispiel: Ich wurde im September letzten Jahres zu einem Oberstufenprojekt eingeladen. Die ganze Oberstufe einer Schule machte eine Projektwoche zum Thema „Weltreligionen“, bei der Vertreter der großen Strömungen an einen runden Tisch gebeten worden waren. Es war ganz einfach, einen buddhistischen Tempelchef zu finden, einen jüdischen Rabbi, einem Moslem, der von der Genfer Synagoge kam, das war alles überhaupt kein Problem. Die Frage, wen sie stellvertretend fürs Christentum einladen sollten, stellte die jungen Leute jedoch vor ein großes Problem:

Sollten sie die Katholiken einladen?

Sollten sie die Protestanten einladen?

Sollten sie die Christengemeinschaft einladen?

Oder die Mormonen?

Die Baptisten?

Oder einen russisch-orthodoxen Priester?

Vor allem aber – was macht einen „richtigen Christen“ aus?

Darüber konnten sie sich nicht einigen, obwohl fast alle Schüler Christen waren. Daraufhin entschieden sie sich mich einzuladen, weil ich keine der offiziellen Gruppierungen des Christentums vertrete.

Wunsch nach einer globalen christlichen Ausrichtung

Im Laufe der Gespräche stellte sich heraus, dass gerade junge Christen keiner der genannten Konfessionen mehr angehören wollen. Sie suchen eine globale Religion, eine Religion, die sie nicht „in eine Schublade steckt“. Sie wollen sich nicht mehr binden (lassen). Daran wurde mir klar, wie weit die Individualisierung heute schon fortgeschritten ist: Die meisten jungen Leute suchen in einer religiösen Gemeinschaft keine Sicherheit mehr, sondern die spirituelle Ebene der Religion. Sie wollen sich mehr mit einer Gruppe verbinden, sondern mit dem Menschheitsganzen. Sie wünschen sich, einer allgemeinen christlichen spirituellen Ausrichtung anzugehören, wollen aber auch gerne Katholik, Protestant oder, was auch immer, bleiben.

Die Kirchen werden in 500 Jahren in ihrer Entwicklung nicht mehr dort stehen, wo sie sich heute befinden. Entweder es gibt dann keine Kirchen mehr oder sie haben gelernt, den Menschen als Individuum auf seinem Weg zu unterstützen. Die Kirchen haben die große Aufgabe, sich heutigen und zukünftigen Anforderungen anzupassen und so wieder ein geistiges Zuhause zu werden für Individuen. In Bereichen, in denen die heutigen Menschen ihre Freiheit noch nicht aushalten, sollten sie in der Lage sein im herkömmlichen Sinne Orientierung zu bieten. Doch in Bereichen, in denen Menschen bereits mündig sind, sollten die Kirchen ihnen Partner sein beim Suchen und Finden ihres individuellen Weges.

Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010