Selbstbewusstsein durch Auseinandersetzung und Identifikation

Inwiefern tragen Auseinandersetzungen zu einem gesunden Selbstbewusstsein bei?

Schmerzhafte Verstärkung von Selbstbewusstsein

Eins ist gewiss: Auseinandersetzung wird immer in einem Bereich gesucht, in dem man das für die eigene Entwicklung bewusst oder unbewusst braucht. Denn in einer Auseinandersetzung verstärkt sich das Selbstbewusstsein auf schmerzhafte Weise. Krieg, Streit und Zwist sind Formen der Auseinandersetzung und sind somit „Väter des Selbstbewusstseins“. Wer in seinem Leben immer wieder mit anderen „Krach" hat, kann zu der Einsicht kommen: Offenbar ist mein Selbstbewusstsein noch so schwach, dass ich diese Auseinandersetzungen brauche, um mich selber stärker wahrzunehmen. Denn so wie Schmerz und Konflikt die Selbstwahrnehmung stärken, so droht bei zu großer Harmonie die Gefahr, dass man im Vertrauen aufeinander schläfrig, träge und unselbständig wird.

Wer die Botschaft des Krieges nicht kennt, kann auch über die Bedingungen des Friedens wenig sagen. Man muss beides verstehen:

  • warum Christus das trennende Schwert bringt
  • und damit zugleich auch den Frieden anbahnt.

Dieses Paradox hängt mit dem Geheimnis des menschlichen Ich zusammen (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal), das zu der Christus-Wesenheit – unserem höheren, wahren Selbst - in direkter Beziehung steht. ER ist es, der die Lehre vom ICH gebracht und verkündet hat – als Opfer für die Menschheit: Ich bin das Brot des Lebens, das Licht der Welt, die Türe, der gute Hirte, die Auferstehung und das Leben, der Weg, die Wahrheit und das Leben, der rechte Weinstock.

Das Geheimnis der Selbstwerdung

Das sind alles Sätze der Identifikation, die auf das Geheimnis der Selbstwerdung des Menschen hinweisen, der sich in der Begegnung mit der Welt und ihren Werten der eigenen Innenwelt und mit dieser korrespondierenden Wertewelt bewusstwird (vgl. Christus heute: Christusbewusstsein entwickeln lernen).

Rudolf Steiner formuliert diesen Tatbestand in der „Theosophie“1 wie folgt: „Das Ich empfängt Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist.“ Das, womit man sich identifiziert, was man als zu sich gehörig erlebt oder was man sich erarbeitet – das macht das eigene Wesen aus: Übt man Wahrhaftigkeit, so wird man wahrhaftiger. Das trifft auf alle Eigenschaften und Tugenden zu, um die wir uns bemühen können.

Das Ich bezieht Nahrung, Bewusstsein und Kraft aus Körper, Seele und Geist – sie sind die drei Arbeitsfelder, auf denen es sich betätigt und sich dadurch seiner selbst bewusstwird. Das ursprünglich aus dem göttlichen Wesen hervorgegangene, von IHM geschaffene und gewollte Ich dagegen ist sich seiner selbst noch nicht bewusst. Es ist wie paradiesisch schlafend hingegeben an die Vorgänge der Welt und beginnt sich erst durch die Vereinzelung im Körper der Tatsache seines „Geschaffen“ bzw. Geworden-Seins bewusst zu werden. Ist dieses Bewusstsein jedoch einmal erwacht, stellt sich die große Frage nach dem Wohin und Wozu und wie es weitergehen soll.

Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997

  1. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.