Gefahr ideologiegestützter Gruppenbildung

Wie hängen sexuelle Gewalt und Gruppenideologien zusammen?

Rudolf Steiner führt den Nationalismus und den mit ihm verbundenen Hass auf die „Fremden“, die „Anderen“ auf ein und dieselben Triebkräfte zurück. In der emotionalen Verbundenheit von Abstammungsgemeinschaften (Familie, Clan, Stamm, Ethnie) wirkt der körperbezogene, leibgebunden tätige Astralleib und dämpft das wache, zur Selbstdistanzierung fähige Ichbewusstsein durch das organische Triebleben herab. Im Seelischen lebt der Astralleib in der polaren Spannung zwischen Sympathie und Antipathie. Wirken seine Kräfte zu stark, so kann er die Ich-Führung außer Kraft setzen, wenn diese durch Erziehung und Leben nicht genügend Eigenkompetenz entwickeln konnte: Dann ist der Mensch zu Reaktionen in der Lage, zu welchen ihn seine jeweilige Umgebung anregt oder treibt. Je weniger Identitätssicherheit im individuell erfassten Geistigen, umso größer sind Sehnsucht nach Geborgenheit und Stabilität im Seelisch-Körperlichen.

Auch das Bedürfnis nach Geborgenheit in einer Gruppe, die Sehnsucht nach Anerkennung oder die Angst vor Ausschließung können zur Triebfeder destruktiver Verhaltensweisen werden. In Nationalismus, Fanatismus und religiösem Sektierertum zeigt sich eine kollektive Ersatzidentität, die an die Stelle der nicht oder nur schwach vorhandenen persönlich entwickelten Identität tritt. Jede Form von ideologiegestützter Gruppenbildung birgt daher die Gefahr von Persönlichkeits- und Identitätsverlust und fördert das Ausleben sexueller Perversionen und daraus resultierender Gewalt. Oft traut man es den betreffenden Menschen überhaupt nicht zu, wenn man ihnen im Strafvollzug begegnet, dass sie gemordet haben oder Missbrauchstäter waren. Sie erscheinen häufig weich, sentimental, von Selbstmitleid erfüllt. Infantile Ansprüche an das Leben und Angst vor sich selbst stehen im krassen Gegensatz zu dem brutalen Auftreten ihren Opfern gegenüber.

„Ich selbst bin mein Himmel und meine Hölle!“

Das alte Sprichwort: „Wo die Götter den Tempel verlassen, da walten Gespenster“ gilt auch für den menschlichen Leib. Wenn das Ich sich zurückzieht oder sich nicht richtig inkarnieren kann, treten andere Mächte an seine Stelle. Gedanken, Gefühle und Motivationen sind Realitäten – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Die geistige Welt ragt mit ihren Kräften und Wesen in die menschliche Seele herein, die selbst der Schauplatz der Entwicklung des Menschengeistes ist oder, wie es Schiller noch als junger Erwachsener in seinen „Räubern“ den Karl Moor sagen lässt: „Ich selbst bin mein Himmel und meine Hölle!“ Moor erkennt, dass es von ihm und seiner Ich-Tätigkeit abhängt, in welchem Seelen- oder Geistesreich er sich bewegt. „Sei, wie du willst, namenloses Jenseits – Bleibt mir nur dieses mein Selbst getreu! Sei wie du willst, wenn ich nur mich selbst mit hinübernehme! Außendinge sind nur die Farbe des Geistes – Ich selbst bin mein Himmel und meine Hölle!“1

Zu dieser erlebten Hölle kann auch gehören, dass man später selber zum Täter wird, wenn es einem nicht gelingt, z.B. eine sexuelle Traumatisierung in der Kindheit zu verarbeiten. Derartige unverarbeitete Traumata können zu einem Identitätsverlust führen, in dessen Folge man selbst gefährdet ist, andere zu missbrauchen.

Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020

  1. Friedrich Schiller: Die Räuber. IV/15. Sämtliche Werke. Band 1. München 1968.