Mann und Frau aus Sicht der Anthroposophischen Menschenkunde

Wie unterscheiden sich Mann und Frau im Seelisch-Geistigen?

Warum sind das weibliche Denken und Beobachten eher sprühend, flexibel, nach außen orientiert und das männliche eher besonnen, introvertiert und systematisch?

Warum gibt es kein einziges bekanntes philosophisches System, das von einer Frau geschrieben wurde?

Welche Erklärungen bietet die anthroposophische Menschenkunde für diese Phänomene?

Embryonalentwicklung der Geschlechter

Mann und Frau unterscheiden sich in ihrer physischen Organisation durch das jeweilige Kerngeschlecht XX und XY. Genetische Abweichungen sind selten und als Hermaphroditismus ein eigenes Fachgebiet der Medizin. Die verschiedenen Formen der Intersexualität werden inzwischen auch als eigene geschlechtliche Identität anerkannt. Es ist Eltern heute von Gesetzes wegen untersagt, über die Geschlechtsidentität ihrer Kinder zu entscheiden. Vielmehr muss abgewartet werden, bis klar ist, welches Geschlecht das Kind „von sich aus“ bevorzugt.

  • Die ersten 6 Wochen: intersexuelle Phase

Interessant ist, dass in den ersten sechs Wochen der Embryonalentwicklung jeder Embryo sowohl eine männliche als auch eine weibliche Gonadenanlage ausbildet und sozusagen jedes Menschenleben intersexuell beginnt. In den ersten sechs Wochen ist sozusagen jeder Embryo ein Zwitter oder Hermaphrodit.

  • 6. bis 12. Woche: Ausbildung eines Geschlechts

Von der 6. bis 12. Woche beginnt dann parallel zur Entwicklung des Großhirns und der Veranlagung aller Körperorgane der langsame Prozess der Unterdrückung des entgegengesetzten Geschlechtes. Nachdem sich die entgegengesetzte Geschlechtsanlage zurückgebildet hat, bleiben nur kleine entwicklungsgeschichtliche Rudimente aus dieser Zeit im Umkreis der Hoden und Ovarien vom jeweils anderen Geschlecht zurück: beim Mann die Appendix testis als Rest der weiblichen Fortpflanzungsanlagen und bei der Frau das Paroophoron und die Zyste des Gartnerschen Gangs von der männlichen Anlage.

Da normalerweise der Organismus auf alles verzichtet bzw. es zum Verschwinden bringt, was er nicht braucht, ist es schon verwunderlich, dass diese Rudimente ein Leben lang bestehen bleiben. Als ich meinen Anatomieprofessor fragte, warum das denn so sei, konnte er diese Frage begreiflicherweise nicht beantworten, sondern bemerkte nur trocken, das seien eben „entwicklungsgeschichtliche Rudimente“.

  • Ab 7. Woche: Beginn der Gehirnentwicklung

Aus anthroposophischer Sicht macht dieser Tatbestand jedoch sehr viel Sinn. In den ersten sechs Wochen beginnt sich der männlich-weibliche ätherische Gesamtorganismus zu verkörpern. Infolge des Einflusses der Geschlechtschromosomen differenziert sich der Ätherleib ab der sechsten Woche in einen Teil, der sich weiter inkarniert und der die Entwicklung der Geschlechtsorgane besorgt, und in einen anderen Teil, der die Gehirnentwicklung vorantreibt. D.h. die freiwerdenden Ätherkräfte, denen wir unser späteres bewusstes Gedankenleben verdanken, beteiligen sich als leibfreie ätherische „Gedankenaura“ ab der siebten Woche aktiv an der Gehirnentwicklung, die mit der Großhirnbläschenbildung am Vorderhirn beginnt.

Unterschiedlichkeit von Mann und Frau in Physis und Denken

So wie sich jedes Organ an seiner Funktion bildet, also Folge eines physiologischen Prozesses ist, so bildet sich auch das Gehirn an der aktiv tätigen, aus den rückgebildeten gegengeschlechtlichen Ätherkräften gebildeten Gedankenaura zum Denkorgan. Deswegen hat auch das männliche Denken eine weibliche Prägung und das weibliche Denken eine männliche. Rudolf Steiner berichtet folgerichtig aus seiner Forschung, dass bei Frauen der männliche Charakter im Ätherleib dominiere und bei Männern der weibliche. Deshalb zeigt sich die Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen nicht nur in den physischen Geschlechtsmerkmalen, sondern ebenso in ihrem Denken und Empfinden – nur auf gegenläufige Art und Weise: Die Gedankenaura umfasst bei der Frau die volle Kompetenz der ätherischen Kräfte, die als Wachstumskräfte die männlichen Fortpflanzungsorgane bildeten. Beim Mann ist es umgekehrt. Man kann sich diese Unterschiedlichkeit gut klarmachen, wenn man sich die Funktionsdynamik der männlichen und weiblichen Fortpflanzungsorgane vorstellt.

  • Das Spontane, Unstete, Sprühende, Flexible ist typisch für die männliche Fortpflanzungstätigkeit und entsprechend für das weibliche Denken.
  • Wogegen das in sich Ruhende, Reifenlassende, Abwartende die Geste der weiblichen Reproduktionskraft ist und entsprechend für das männliche Denken.

Viele Probleme in Ehe und Partnerschaft kommen gerade daher, dass das, was einen am anderen besonders nervt, das gedankliche Gegenstück der eigenen Fortpflanzungsaktivität ist. Macht man sich dieses jedoch klar, so kehrt der heilsame Humor auf beiden Seiten wieder leichter in den Alltag zurück.

Beispiele aus dem Leben

Zu der eingangs gestellten Frage: Frauen schreiben gerne philosophische Essays, aber sie würden doch nicht lebenslang an einem System arbeiten! Andererseits gibt es keinen Philosophen – auch nicht Steiner, der nicht wichtige Anregungen in seinem Werk dem Gespräch mit Frauen verdankt.

Weitere Beispiele aus dem Alltag: Es ist evident, dass eine Frau höchst selten einen Einkaufszettel schreibt, bevor sie aus dem Haus geht, wohingegen Männer dies in der Regel tun. Entsprechend kommen Männer auch relativ rasch mit dem Notierten nach Hause, wogegen Frauen „schon wissen, was sie brauchen“, sich gerne beim Einkaufen selbst auch noch anregen lassen durch das, was sie sehen, und manchmal sogar ohne das Produkt heimkommen, dessen Fehlen den Einkauf ausgelöst hat.

Oder: Ein Paar hat sich endlich über ein schon lange bestehendes Problem in Ruhe ausgesprochen und sogar eine mögliche Lösung gefunden und erste Verabredungen getroffen. Am nächsten Morgen sagt sie jedoch beim Frühstück: „Du, ich hab’ da eine Idee, wir sollten uns doch noch einmal unter diesem Aspekt der Problematik zuwenden.“

Unterschiede im Seelischen

Hinzu kommt die Verschiedenheit auf der Ebene der astralischen Organisation:

Die männliche Konstitution zeichnet sich dadurch aus, dass die astralische Organisation mit ihrer Differenzierungskraft viel tiefer in die physische Organisation eingedrungen ist, als dies bei der Frau der Fall ist. Das zeigt sich an der stärkeren Behaarung, der tieferen Stimme und der insgesamt kantigeren und differenzierteren männlichen Konstitution.

Die weibliche Konstitution dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass die ätherische Organisation stärker in der physischen ausgeprägt ist und sich dem tieferen Eingreifen der astralischen Kräfte widersetzt. Dadurch ist die ganze Gestalt rundlicher und weicher und körperlich in der Lage, ein Kind auszutragen. Die astralischen Kräfte jedoch, die in der weiblich-physischen Konstitution nicht wirken können, stehen der Frau zusätzlich seelisch zur Verfügung. Daher ist die Frau generell emotionaler, hat es leichter ihre Gefühle auszusprechen, nimmt sie auch wichtiger als der Mann, und ist in der Regel auch seelisch belastbarer als er, der meist physisch stärker ist.

Ausgleichende Fähigkeiten zur Kommunikation erwerben

Rudolf Steiner war es ein besonderes Anliegen, dass Jugendliche in der Reifezeit zwischen 13 und 16 Jahren in Bezug auf ihr Geschlecht von den Pädagogen im schulischen Rahmen differenziert angesprochen werden:

  • Den Jungen sollte man helfen, aus sich herauszugehen und mithilfe des künstlerischen Unterrichts auch zu lernen, über Empfindungen und Gefühle zu sprechen.

  • Mädchen sollte man hingegen anregen zu üben, ihren Redefluss zu stoppen, also erst zu denken und dann zu reden.1

Beide müssten lernen so zu kommunizieren, dass sie sich gut verständigen können und nicht durch die einseitige Eigenart ihres Geschlechts – nicht reden zu wollen oder ungefragt zu viel zu reden – an einer guten Kommunikation gehindert werden.

Durch die stärkere physische Astralisierung ist der Mann wacher in seinen Sinnen, die Frau hingegen differenzierter und empfindsamer gegenüber dem, was sie denkt. Daher fällt es Frauen auch leichter als Männern, sich für Spiritualität zu interessieren. Beide können aber lernen, was ihnen fehlt – denn beide sind ganze Menschen. Die ätherische Organisation ist männlich und weiblich zugleich und die astralische ebenso. Beide Organisationen wirken sich aber aufgrund der physischen Geschlechtertrennung körperlich und seelisch unterschiedlich aus.

Unterschiede in der Ich-Organisation

Auch die Ich-Organisation ist davon betroffen.

  • Denn durch die stärkere Gefühlspräsenz im Seelischen bei der Frau ist diese eher in Gefahr, dass ihre Willens-Kompetenz ins Schlepptau der Gefühle und Emotionen gerät und die Gedankenführung nicht stark genug ist.

  • Hier hat es der Mann leichter, weil der größere Anteil seines Astralleibes physisch verkörpert ist und deswegen sein bewusstes Seelenleben stärker vom Denken dominiert wird als bei der Frau.

Umso nötiger ist es, dass diese Einseitigkeiten im Sozialen zum Ausgleich kommen. Denn das Denken der Frau ist lebensgemäßer, empfindsamer und von mehr Empathie geleitet als das mehr rational-strukturelle Denken des Mannes, das oft von Frauen als abstrakt und lebensfremd empfunden wird.

Gestörte Gefühlsentwicklung durch Medien

Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass gerade in dem Alter, in dem das Kind lernen sollte, sein Gefühlsleben gesund zu entwickeln, die mediale Welt dies brutal behindert. Ist es doch das Gefühlsleben, durch das wir Kohärenz mit uns und der Welt erleben. Dazu braucht es aber das realweltliche Gegenüber und die eigenständige Verarbeitung der gemachten Erfahrungen durch das Denken. Werden unsere Gefühle jedoch von der digitalen Welt beansprucht, so können sie nicht menschlich reifen und zu einem autonomen „Seelenleben“ werden, das der Ich-Steuerung unterliegt. Die emotionale Reifung bleibt vielmehr unentwickelt und abhängig von den Anregungen aus dem Internet, der Spiel- und Unterhaltungsindustrie.

Diese Betrachtung kann aber auch deutlich machen, warum es so wichtig ist, ein klares Verständnis von der „quinta essentia“ und vom wahren höheren Ich zu haben. Dieses ist nicht identisch mit der bisher beschriebenen Ich-Organisation. Letztere ist individuell, inkarniert sich einerseits im Physischen und liegt andererseits, als leibfrei gewordene Ich-Kraft, unserem Willensvermögen zugrunde. Sie bildet unser „niederes Ich“, unser an den Körper gebundenes Selbst.

Egoismus in körperlicher Hinsicht ist gesund – ohne funktionierendes Immunsystem, ohne unser biologisches Ego, wären wir krank. Problematisch wirkt der Egoismus erst dann, wenn er diese körperbezogene Funktionsdynamik bei der Metamorphose in die leibfreie Willenskraft beibehält. Daher bedeutet seelisch-geistige Entwicklung immer zuerst Selbsterkenntnis: einfaches Beobachten des eigenen Denkens, Fühlens und Wollens und die freie bewusste Entscheidung, in welche Richtung man diese Seelenkräfte betätigen und für die eigene Entwicklung und die seiner Mitwelt einsetzen möchte.

Höheres Ich und Christusbewusstsein

Die damit verbundene Möglichkeit, über sich selbst und seine persönlichen Bedürfnisse hinauszuwachsen und sich für die großen Belange der Menschheit und die Nöte der Zeit einzusetzen, befähigt den Menschen, einen Begriff vom „wahren Ich“ zu bilden. Diese Instanz, auch „höheres Selbst“ genannt, verkörpert sich nicht in einem individuellen Menschenleib. Es steht vielmehr der ganzen Menschheit als Wesenhaftes zur Verfügung, in der sie sich eins fühlen und in ihrer „Gottebenbildlichkeit“ erkennen kann.

Das Besondere an der christlichen Religion ist, dass sie davon ausgeht, dass dieses wahre höhere Ich der Menschheit bei der Jordan-Taufe als Gottessohn, als Christus, in Jesus einzog und für drei Jahre auf Erden wandelte, bevor es durch den Tod auf Golgatha in die Äthersphäre der Erde überwechselte, um von dort aus das weitere Schicksal der Menschheit zu begleiten. Seither kann dieses wahre höhere Ich von jedem Menschen in sein Denken, Fühlen und Wollen aufgenommen werden, so wie es im Prolog des Johannesevangeliums beschrieben wird: „Die es aber aufnahmen, denen gibt es die Kraft, Gotteskinder zu werden.“2

In der Waldorfpädagogik bemüht man sich, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, mit allem, was sie aus Familie, gesellschaftlichem Umfeld, aber auch konstitutionell an Begabungen, zu denen auch das eigene Geschlecht gehört, mitbekommen haben, so umzugehen, dass es ein hilfreiches Instrument wird auf dem Weg zum wahren Ich.

Identifiziert sich ein Mensch nur mit den unteren Ebenen des Menschseins, mit Familie, Beruf, Nation oder dem Mann- bzw. Frausein, sodass er diese Identität für das eigene Ich hält, stagniert seine Entwicklung und er ist nicht wirklich frei. Ziel der Waldorfpädagogik ist es, die Entwicklung so lange im Fluss zu halten, bis die Jugendlichen so weit sind selbst bestimmen zu können, wie sie mit sich und der Welt umgehen möchten. Dann geht die angestrebte „Erziehung zur Freiheit“ wie selbstverständlich in die „Selbsterziehung aus Freiheit“ über.

Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020

  1. Siehe Rudolf Steiner: Erziehungsfragen im Reifealter. Zur künstlerischen Gestaltung des Unterrichts. In: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis. GA 302a. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993; siehe auch Michaela Glöckler: Die männliche und weibliche Konstitution. Urachhaus, Stuttgart 1987.
  2. Neues Testament, Joh. 1,12.