Leben, Seele, Ich und Sinne

Wie hängen die Prozesse des Lebens, der Seele und des Ichs mit den Sinnen zusammen?

Zusammenspiel von Sinnen und Leben

Die Sinne und die Lebensprozesse gehören nach Steiner eng zusammen.1 Das sagt auch die moderne Nervenlehre. Ohne die Lebensprozesse machen die Sinne gar keinen Sinn, denn Leben ist sensibel, ist Berührung, ist Beziehung, ist Sensorik. Leben ist immer die Verbindung zwischen etwas und seinem Umkreis, es braucht einen Umkreis. Totes dagegen braucht keinen Umkreis. Und um den Umkreis erleben zu können, sind die Sinne nötig. Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit bilden sich auf der Grundlage der Lebensvorgänge, gestalten sich an der Begegnung, an der Berührung. Demnach ist das Leben die Vorbedingung für die Ausbildung der Sinnesorgane, die sich an der Umwelt für die Umwelt bilden. Oder wie Goethe vom Auge sagt, dass es sich „am Licht für das Licht“ bildet.

„Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit werden von den Lebensvorgängen vorausgesetzt. Die Lebensvorgänge von den Seelenvorgängen, die Seelenvorgänge vom Ich, das Ich wird sich bewusst an den Seelenvorgängen.“2

Die Sinnesorgane (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Sinnestätigkeiten – Sinnespflege) in ihrer Gesetzmäßigkeit haben also Lebensvorgänge (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Lebenssinn) als Voraussetzung und diese wiederum Seelenvorgänge (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Unser Seelenleben), die ihrerseits Ich-Tätigkeit (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen der Ich-Organisation) als Voraussetzung haben: Wenn ich nichts erleben will, erlebe ich auch nichts, dann verkümmern meine Sinnesorgane. Im Zuge der Sinnesschulung sind wir bemüht, neue Erlebnisse zu „erzeugen“ – bei uns selbst oder beim anderen – wollen wir die Seele erregen, ihr neues Leben einhauchen, sie beleben, damit sie ihrerseits, lebendiger geworden, die Sinnesorgane aktiviert (vgl. Gefühle und Fühlen: Anregung der Gefühle durch Sinnesschulung).

Wie oft steht im Evangelium, dass Menschen Augen haben, aber nicht sehen, Ohren haben, aber nicht hören. Im Grundsteinspruch3 heißt es: „Menschen mögen es hören!“ Warum ist das so? Wenn wir uns seelisch nicht bewegen, uns für nichts interessieren, erlahmt die Lust, Neues zu erleben, denn wir kennen alles ja schon… Dann wird es langweilig, dann wird die Seele immer grauer, immer trüber, immer unbeweglicher. Als Folge degenerieren die Sinnesorgane und zum Schluss weiß man nicht mal mehr, ob es einem warm oder kalt ist.

Ich und Sinneserfahrung

Das Ich lebt in den Sinnen, wach und bewusst. Da startet es sozusagen durch bis in die Außenwelt: Das Ich bringt den Erlebnisraum „Seele“ in Resonanz mit seiner Umwelt, entwickelt Interesse daran, bewegt sich in die Umwelt hinein. Dadurch entsteht eine lebendige Beziehung zur Umwelt, kommt es zu Sinnes-, Begegnungs-, Berührungsreizen. Und nun kehrt sich das Ganze wieder um: Es kommt zu einem Sinneseindruck, der dann mit allem möglichen Begleiterfahrungen und -umständen „angereichert“ im Großhirn landet und dort wach und bewusst mit Hilfe des Denkens verarbeitet wird.

Wir können also sagen, der Tastsinn in seiner Gesetzmäßigkeit wird von den Lebensvorgängen bedingt: Am Anfang war die sensible Zelloberfläche, die den Lebensvorgängen geschuldet war und diese den Seelenvorgängen, dem Interesse an der Umwelt, das wiederum vom Ich abhängt, von der Art, wie jemand von Ich zu Ich dem anderen begegnet.

Das Ich ist also der eine „Chef“.

Das Ich wird sich umgekehrt seiner selbst bewusst an den Seelenvorgängen, die ihrerseits erlebt werden durch die Lebensvorgänge. Diese und das damit zusammenhängende Lebensgefühl gestalten sich wiederum nach der Gesetzmäßigkeit der Sinnesorgane, werden von ihnen beeindruckt und beeinflusst: Durch das, was wir sehen und erleben, wird unser ganzes Lebensgefühl verändert, verwandelt.

Die Sinnesorgane mit ihrer physischen Beeindruckbarkeit sind der andere „Chef“.

Jetzt geht es wieder zurück bis zum Ich…

Den Sinnen hast du dann zu trauen…

Goethe sagt in seinem Gedicht „Vermächtnis“:

„Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.“

Alle Sinnestäuschungen sind im Grunde „Gedankentäuschungen“. Sinnestäuschungen an sich gibt es nicht, nur Fehlinterpretationen von Sinneseindrücken. Denn die Sinneseindrücke sind das Ergebnis einer Begegnungskultur, die wahr ist. Wer sich in der goetheanistischen Betrachtungsweise übt, merkt, wie er sich gedanklich umerziehen muss, um Sinneseindrücke adäquat zu verarbeiten, damit die Sinne einen nichts Falsches lehren: Z.B. ist die Theorie, dass der Mensch dem Urknall entstammt und dem Wärmetod entgegengeht eine falsche Interpretation von richtigen Sinneserfahrungen. Der ganze Materialismus ist eine einseitige – und damit eine Fehlinterpretation – unserer sinnlichen Erfahrungswelt.

Zweierlei Impulse für Weiterentwicklung

Wir sollten uns die Brücken zwischen Geist und Materie noch einmal neu vergegenwärtigen:

  • Vom Ich geht die Intention aus, etwas zu erleben, und die Art und Weise, wie es verarbeitet wird: Wenn wir meditativ arbeiten, führt das zu seelisch geistiger Weiterentwicklung (vgl. Meditation auf anthroposophischer Grundlage: Allgemeines über meditatives Üben).

  • Von den Sinnen kommt die Fülle neuer Erlebnisse, die den Leib weiter und weiter bilden und gestalten. Und so ist die Sinnesbegegnung mit der Welt die Fortsetzung der physischen Schöpfung, bringt physische Weiterentwicklung bis ins höchste Alter.

Goethe, der Meister der Sinnesentwicklung und was sie dem Geiste zurückgibt, und Rudolf Steiner, der Meister der Geistesentwicklung und was diese für die Sinneskultur bedeutet, sind beide zusammen die Initiatoren der Bewusstseinsseele (vgl. Bewusstseins(seelenzeitalter: Bewusstseinsseelenzeitalter - die neue Art zu denken), die ja eine Seelenkultur an den Sinnesgrenzen, am Physischen, ist.

Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung

  1. Rudolf Steiner, Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte. GA 170.
  2. Rudolf Steiner, Lucifer-Gnosis, GA 34, (1971), S 16.
  3. Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Kohlhammer, Stuttgart 2007.
  4. Rudolf Steiner: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24, GA 260 (1994).