Leiblich, seelisch und geistig orientierte Sinne

Was ist unter geistig, seelisch und leiblich orientierten Sinnen zu verstehen?

Warum ist Sinnesschulung für Heranwachsende heute so wichtig?

Zusammenspiel von geistigen und leiblichen Sinnen

Wir verfügen über zwölf Sinne, die sich in drei Hauptgruppen einteilen lassen (vgl. Sinne(spflege): Willensverwandte, gefühlsverwandte und vorstellungsverwandte Sinne). Auf der einen Seite gibt es die Gruppe der leiblich orientierten Sinne (vgl. Sinne(spflege): Körperorientierte Sinne) – Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn – und auf der anderen Seite die geistig orientierten Sinne (vgl. Sinne(spflege): Erkenntnisorientierte SinneHörsinn, Sprach- bzw. Wortsinn, Gedankensinn und Ich-Sinn; dazwischen liegen die seelisch orientierten Sinne (vgl. Sinne(spflege): Seelenorientierte Sinne) – Geruchsinn, Geschmacksinn, Sehsinn und Wärmesinn. Alle diese Sinne wirken nicht einzeln für sich, sondern hängen miteinander zusammen; das gilt insbesondere für die Beziehung zwischen den leiblichen und den geistigen Sinnen (vgl. Sinne(spflege): Luziferisch-ahrimanische Umgestaltung der Sinne).

  • Zusammenhang zwischen Hör- und Gleichgewichtssinn

Der Hör- und der Gleichgewichtssinn (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Gleichgewichtssinn) sind eng miteinander verbunden: Wer seelisch nicht im Gleichgewicht ist, kann schwer zuhören; denn er ist ganz mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Man braucht inneres Gleichgewicht, das sich in Form von innerer Ruhe zeigt, um ganz offen sein zu können. Die Fähigkeit, im Inneren Ruhe herzustellen und sich dem Außen zu öffnen, verdanken wir den Erfahrungen des Gleichgewichtssinns. Das heißt – und das ist jetzt entscheidend – unser Ich, unser Selbst, erlebt sich selbst in der Sinnesaktivität. Es ist die Aufgabe, ja sogar der Sinn des Lebens auf der Erde, dass sich der Geist, das Ich, im Anstoßen an die physische Welt als Individuum erlebt. Dieses Selbsterleben ist deshalb möglich, weil die genannten zwölf Sinne eine Schöpfung Gottes sind, so wie wir als ganzer Mensch gottgewollt sind.

  • Zusammenhang zwischen Wort-/Sprachsinn und Bewegungssinn

Bewegungssinn (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Bewegungssinn) und Wort-/Sprachsinn hängen insofern zusammen, als jede Bewegung, die das Kind lernt, einen Sinn-, Wort-, Sprachzusammenhang darstellt: Jede Geste, jeder physiognomische Ausdruck ist Sprache, jede Bewegung ist Ausdruck von etwas. Das spätere Wort- und Sinnerleben wird durch die Bewegungsentwicklung in den ersten Lebensjahren entscheidend veranlagt. Dem Bewegungssinn verdanken wir unser Freiheitsgefühl. Je freier ein Mensch sich fühlt, desto freier kann er auch mit Sprache umgehen. Ein unfreier Mensch kann sich nicht ausdrücken. Man kann einen unfreien Menschen geradezu daran erkennen, dass er sich immer überlegt, was er wem wann und wo sagen will, dass er unsicher ist und unter allen möglichen Zwängen steht. Der Unfreie geht auch kein Risiko ein, er sichert sich gerne ab. Bewegungsfreiheit verwandelt sich in Ausdrucksfreiheit. Durch die Bewegungsfreiheit erleben wir, dass wir als Mensch überhaupt zur Freiheit veranlagt sind. Nur durch den Bewegungssinn kann Freiheit zur eigenen Erfahrung werden.

  • Zusammenhang zwischen Lebenssinn und Gedankensinn

Entsprechendes gilt für die Lebensvorgänge (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Lebenssinn) und das Denken. Eine gesunde Ernährung, ein guter Lebensrhythmus, die Pflege der Lebenskräfte sind die beste Intelligenzförderung, die beste Förderung für das Wahrnehmen von Gedanken und Lebensvorgängen anderer. Der Lebenssinn bringt mich in Harmonie mit mir selbst, denn er meldet mir durch Hunger, Durst und Missbehagen, dass mir etwas fehlt. Ist das Bedürfnis gestillt, bin ich zufrieden und in Einklang mit mir selbst. Die Aufgabe des Gedankensinns, durch Gedankenarbeit in Einklang mit der Umwelt zu kommen, wird durch den Lebenssinn veranlagt. Menschen, die ein gewisses Ausmaß an Selbstzufriedenheit und Harmonie erlebt haben, bei denen dieses Erleben konstitutionell zur Gewohnheit werden konnte, haben das Bedürfnis, auch in ihrem Umkreis für Harmonie zu sorgen. Wer jedoch an Disharmonie gewöhnt ist, nimmt sie gar nicht als Problem wahr. Solche Menschen können unter Umständen taktlos „dreinhauen“, ohne zu merken, dass sie die Atmosphäre verletzen und damit Zusammenhänge stören. Lebenssinn und Gedankensinn sind ganz bedeutende soziale Sinne. Selbstverständlich stellen Harmoniesüchtigkeit und Überempfindlichkeit ein ebenso problematisches anderes Extrem dar. Aber insgesamt kann man sagen: Die Fähigkeit, uns als integres, harmoniebedürftiges und harmoniefähiges Wesen zu erleben, verdanken wir individuell und sozial gesehen diesen beiden Sinnen.

  • Zusammenhang zwischen Tastsinn und Ichsinn

Nun der Zusammenhang zwischen Tastsinn (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Tastsinn) und Ichsinn: Die wichtigste Selbsterfahrung, die der Säugling macht, erfolgt über die Oberflächen- und Tiefensensibilität; dadurch, dass das Kind seine Grenzen spürt, erlebt es, wenn auch noch dumpf und unbewusst: Ich bin. Wir verdanken dem Tastsinn unser Existenzerlebnis, das die Grundlage für ein gesundes Selbstbewusstsein ist, das von keinem Zweifel an der eigenen Existenz unterminiert wird. Wenn ich von meiner eigenen Existenz überzeugt bin, kann ich auch einen Sinn dafür entwickeln, andere Existenzen wahrzunehmen. Wer sich selbst nicht wahrnimmt, kann auch andere nicht wahrnehmen. Nur wenn sich der Ichsinn, also die Wahrnehmung des anderen Ich, ungestört entwickelt, kann später Sozialkompetenz entstehen.

Da das Kind erst einmal sich selbst erleben muss, stehen im ersten Jahr die leiborientierten Sinne – Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn – ganz im Vordergrund. Die sozialen Sinne – Ichsinn, Gedankensinn, Wortsinn und Hörsinn – sind beim kleinen Kind noch eng mit den leiborientierten Sinnen verbunden. Rudolf Steiner bemerkt hierzu: Was verborgen ist im Tastsinn, wird später offenbar im Ichsinn; das gilt entsprechend für die anderen Sinnespaare. So ertastet das kleine Kind, wenn es die Mutter oder die Tagesmutter oder einen anderen Menschen betastet, zugleich auch deren Ich, deren innerstes Wesen. Es erlebt Gedanken und Wort in den harmonischen oder unharmonischen Lebensumständen sowie in den Gesten und Bewegungen im Umkreis.

Die mittleren seelisch orientierten Sinne

Nun zu den oben schon genannten mittleren Sinnen: Sie lassen uns Wärme, Licht, Klang, Farben, Finsternis, Geschmacksarten, Gerüche wahrnehmen.

Der Sehsinn lässt uns Licht und Finsternis unterscheiden; ihm verdanken wir die optische Orientierung.

Der Geruchsinn macht es möglich, dass wir uns ganz und gar mit einem anderen Wesen vereinigen; denn was wir riechen, nehmen wir ganz in uns auf.

Der Geschmackssinn befähigt uns, nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch uns selbst oder eine Situation „abzuschmecken”; er ist die Erlebnisgrundlage für das spätere seelische Taktgefühl (vgl. Lebensrhythmen: Der Monatsrhythmus).

Der Wärmesinn dient uns zur Regulierung der Körpertemperatur; er liegt aber auch unserer späteren Fähigkeit, uns für etwas zu erwärmen, uns dafür zu begeistern zugrunde (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen der Ich-Organisation).

Die Entwicklung all dieser Sinne geht sehr schnell vor sich. Wenn sie im ersten Lebensjahr gestört wird, in dem alle Organe, vor allem aber das Nervensystem, die stärkste Prägung erfahren, wird für das gesunde Erwachen im Leib eine mehr oder weniger große Behinderung veranlagt (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Qualitäten der Selbsterfahrung).

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2