Hilfe in einer traumatisierenden Zeit

Warum haben immer mehr Kinder Anpassungsstörungen?

Warum entwickeln viele kein gesundes Körpergefühl mehr und zeigen autistische Züge?

Wie können wir als Pädagogen und Therapeuten hier heilende Impulse setzen?

Traumatisierung als Weltproblem

Gegenwärtig gibt es nur noch wenige Kinder und Jugendliche, denen traumatische Erlebnisse erspart bleiben. Überall auf der Welt, egal wo, stehen drei Probleme ganz im Vordergrund: das traumatisierte Kind, das unangepasste, beziehungsgestörte Kind und die Zunahme autistischer Züge – das ist selbst in Indien ein Riesenthema. Man muss heute davon ausgehen, dass jedes dritte, vierte Kind traumatisiert ist.

  • Auf der einen Seite kommt es zu Traumatisierungen durch Gewaltbereitschaft zu Hause, durch Vernachlässigung und durch sexuellen Missbrauch.

  • Auf der anderen Seite wirkt es traumatisierend auf Kinder, die Erwachsenen selbst als ängstlich, mutlos und ohne Zukunftsperspektive zu erleben. Das ist äußerst erschreckend für Kinder.

Dabei hängt der Schweregrad der Traumatisierung nicht nur von dem Ereignis als solchem ab, z.B. miterleben zu müssen, wie ein Mitschüler misshandelt oder die Mutter vom Vater zusammengeschlagen wird, wie das eigene Erleben von sexuellen Übergriffen oder wie all die grausamen Ereignisse, die über die Medien an sie herangetragen werden und die sie nicht verarbeiten können. Diejenigen, denen solche eindeutigen Grausamkeiten erspart bleiben, sind oft „einfach“ einer Atmosphäre der Ruhelosigkeit und des Desinteresses ausgesetzt. Auch hier sind Angststörungen und Bindungsprobleme, Misstrauen in die Welt und das Leben, innerer und äußerer Rückzug und die Tendenz zur Abhängigkeit von tröstenden und beruhigenden Substanzen oder Mechanismen wie vorprogrammiert.

Der Grad der Traumatisierung hängt zusätzlich vom jeweiligen Lebensalter der Betroffenen und ihrer Resilienz-Fähigkeit ab, der Fähigkeit mit Destruktivem und Schmerzhaftem umzugehen. Lebensalter und Resilienz sind auch entscheidend für das notwendige therapeutische Vorgehen. Dazu braucht es Erwachsene im Umfeld der Kinder, die in der Lage sind, gezielt therapeutische Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

Gewaltbereitschaft als Folge des Materialismus begreifen

Die von Dauerstress bestimmte kulturelle Gestimmtheit unserer heutigen Zeit muss als eine Folge des Materialismus angesehen werden, den wir bereits in der vierten und fünften Generation erleben. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass Gewaltbereitschaft, Aggressivität und Egozentrik unter den Menschen wachsen, was sich als Tendenz zeigt, andere wirklich schädigen zu wollen, die Wut an ihnen auszulassen und destruktiv und übergriffig zu werden. In der Regel leben Menschen aneinander vorbei, haben keine Ruhe, keine Zeit, keine Lust, stellen aber hohe Ansprüche an ihre Kinder, üben viel Kritik, geben ihnen wenig positive Zuwendung. Auch Eltern und Lehrer, werden oft übermäßig von ihren Verpflichtungen, von allem, was sie tun müssen, was auf ihrer Agenda steht, motiviert.

Das können die meisten Kinder nicht einfach so wegstecken oder gar verarbeiten: Diese Gestimmtheit genügt, sie zu traumatisieren, und ist ein wesentlicher Grund für die hohe Sensibilität, die wir heute schon bei kleinen Kindern vorfinden. Sie sind viel wacher im Ich, viel kundiger – nicht nur technisch, sondern auch problemkundig, doch diese Probleme überfordern sie und machen sie krank. Aus alledem „retten“ sich Kinder, indem sie Anpassungsstörungen, sogenannte Verhaltensstörungen, entwickeln, die im Grunde hauptsächlich Ausdruck ihrer traumatischen Begegnungen mit der Welt sind.

Das Schlimmste daran ist, dass sich Kinder und Jugendliche über das negative Urteil des sozialen Umfeldes selbst auch als unangepasst erleben. Sie fühlen sich zudem abgelehnt, was bei ihnen zu Wut und Hass und zu noch stärkeren Abweichungen führt. Dadurch verstärkt sich die negative Reaktion und führt zu noch mehr Hass und Verzweiflung. Und so schraubt sich die Traumatisierungs-Spirale hoch, bis das Kind zu einem Therapeuten oder Heilpädagogen gebracht wird. So wie mit Kindern heute umgegangen wird, kann man froh sein, dass die Auswirkungen nicht noch viel schlimmer sind, z. B. auch mit Blick auf die neue Armut – doch die Zeitbombe tickt!

Therapeutische Grundvoraussetzungen

Als Pädagogen und Therapeuten müssen wir verstehen, wie sich die Zeitqualität auf die jungen Menschen heute auswirkt, wie sehr sie unter der Angst und Orientierungslosigkeit der Erwachsenen leiden, unter deren Unverständnis, Gereiztheit und Gehetzt-Sein.

  • Solange wir einerseits meinen, all das beträfe nur die anderen, wäre ihr Problem, nicht unseres,

  • solange wir uns andererseits beklagen, wie furchtbar es heute auf der Welt zugeht und dass eigentlich alles ganz anders sein müsste,

sind wir noch nicht fähig, das Zeitschicksal in seiner Bedeutung zu begreifen. Dann fehlt uns das Verständnis für unsere Zeit, unsere Mitmenschen, vor allem aber die Empathie für die Kinder unserer Zeit. Um ihnen in ihren Nöten beistehen und sie therapeutisch begleiten zu können, müssen wir in der Tiefe verstehen, warum alles ist, wie es ist, und gar nicht anders sein kann.

Gesunde Entwicklungsbedingungen und -verläufe, wie wir sie aus der Waldorfpädagogik kennen, sind nirgendwo zu finden. Man muss jedoch das Gesunde kennen, wenn man helfen will. Man muss um die Ressourcen und die Entwicklungsrichtung wissen, und um das, was dem Kind guttut und was ihm bei alledem hilft, seinen Willen seinem Schicksal gemäß zu entwickeln. Ohne die Kenntnis dessen, was zu einer gesunden Entwicklung beiträgt, kann man weder pädagogisch noch therapeutisch begleiten. Am Trauma, dem sogenannten Bösen, werden wir wach für das Gute, für neue Ressourcen, auch in uns selbst. Wenn wir uns daran orientieren, werden wir Schritt für Schritt wissen, was das Kind für seine Heilung braucht.

Vgl. Vortrag „Zukunft wollen – Gegenwart gestalten“, Stuttgart, 14.10.2006