Sinnfindung als Weg der Heilung

Inwiefern wirkt es heilend, ein traumatisierendes Erlebnis als sinnvoll für die eigene Entwicklung erkennen zu können?

Was kann den Betroffenen zu einer solchen Sinngebung verhelfen?

Etwas, das sich im eigenen Schicksal ereignet hat, kann man nicht ungeschehen machen. Das ist aus einer höheren Perspektive auch gar nicht wünschenswert, denn ich weiß von einigen, die in einer Traumabehandlung waren oder die selbstständig ihr Trauma verarbeitet haben, dass sie später zugeben, ohne dieses problematische Ereignis wären ganz viele Dinge in ihrem Leben anders gelaufen.

Trauma als Beginn eines spirituellen Weges

Sehr oft ist eine Traumatisierung der Anlass dafür, einen spirituellen Weg zu beschreiten. Auch gibt es keinen guten Trauma-Therapeuten, der nicht irgendeine spirituelle Orientierung hätte, sei es eine buddhistische oder christliche oder noch anders geartete spirituelle Ausrichtung. Es spielt keine Rolle, woran sich jemand spirituell orientiert, aber dass er es tut, ist wichtig, weil nur ein spirituelles Menschenverständnis auf die nötigen Gesundheitskräfte hinzuweisen und sie freizulegen vermag. Einem materiellen Menschenbild erschließen sie sich nicht, weil es zu kurz greift, das tiefere und höhere Wesen des Menschen nicht erfassen kann. Dabei geht es um transzendente Begriffe, um Ideale, die in der materialistischen Weltsicht nicht vorkommen. Unsere Vorstellungen von Gott, Engeln und Heiligen sind alle ideeller Natur. Gott wird in den Religionen mit Wahrheit und Liebe gleichgesetzt. Dass Gott auch Freiheit ist und gewährt, können viele religiöse Ausrichtungen noch nicht erkennen. Nur für das Christentum, wenn man es richtig versteht, ist Freiheit ein Ideal.

Annahme und Verstehen des Geschehenen

Unter dem Aspekt der Heilkraft der Wahrheit, ist es für den Heilprozess wesentlich, dass die Betroffenen lernen, ihr Trauma als zu ihrem Schicksal gehörig anzunehmen – einfach aufgrund der Tatsache, dass es stattgefunden hat. Keinesfalls wäre es klug, alles zu verdrängen, denn dann rumort es in der Tiefe und erzeugt immer weitere pathologische Auswirkungen.

Erst durch das Verständnis für das Geschehene bekommt es einen Sinn. Solange man ein Trauma nicht verstanden hat, kann man weder einen Sinn darin finden, noch verzeihen. Beides gehört jedoch zusammen. Die Sinnhaftigkeit zu finden, ist so beglückend, dass man dann auch die Kraft zum Verzeihen aufbringt. Das Verstehen ist der Weg dahin.

Das Wort Sinnhaftigkeit stammt aus der Terminologie von Aaron Antonowsky.1 Er nennt drei Quellen für das Kohärenzgefühl (sense of coherence), das uns den großen Zusammenhang von Denken, Fühlen und Handeln erleben lässt (vgl. Gesundheit: Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit ):

  • Man muss etwas verstehen können (denken).

  • Man muss es als sinnhaft empfinden können (fühlen).

  • Man muss es handhaben können, muss konstruktiv und sinnstiftend damit umgehen (tun).

Das Gefühl von Sinnhaftigkeit

Ich muss zudem das Gefühl haben, dass etwas, das ich verstehe, auch für mich Sinn macht. Zum Beispiel kann ich noch so oft versuchen zu verstehen, dass dieser Triebtäter das gemacht hat, weil er ein Triebtäter ist. Das hilft mir nur nicht weiter, solange es für mich persönlich keinen Sinn macht, dass mir das passiert ist.

Es geht immer um Herzenskultur, um ein wirkliches Verstehen. Deswegen sagt Goethe: Man versteht nur, was man auch liebt. Er wusste das bereits. Antonowsky hat diesen Umstand gründlich erforscht und wissenschaftlich belegt: Ohne Gefühl der Liebe, des innerlichen Beteiligtseins, kann ein Mensch nicht wirklich verstehen. Es braucht ein Gefühl von Sinnhaftigkeit. Goethe sagt auch: „Wenn ihr es nicht fühlt, ihr werdet es nicht erjagen“. Rudolf Steiner schreibt in der Theosophie:2„Nur durch das Gefühl bekommt ein Gedanke Bedeutung für das Individuum.“ Das ist wie ein Bonbon, das man sich auf der Zunge zergehen lassen kann: Nur durch das Gefühl bekommt der Gedanke Bedeutung für das Individuum.

Keine Erkenntnis ohne Gefühl

Manche meinen, im Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“3ginge es nur um das Denken. Das stimmt nicht, das ganze Buch ist dem Gefühl gewidmet. Dort wird vom Pfad der Verehrung und dem Tor der Demut gesprochen und gesagt, dass der Geistesschüler ohne diese Gefühle keinen Millimeter weit in der Erkenntnis kommt. Weil sie das Gefühl vernachlässigen, erleben viele, dass sich trotz Üben nichts bei ihnen tut. Sie überlesen den Anfang, üben irgendetwas und wundern sich, dass das nicht funktioniert. Es geht bei dem Weg der Erkenntnis um eine gigantische Gefühlserziehung. Erst dann bekommt das Erkannte Bedeutung und macht Sinn für mich. Es geht um diese selbstlose Liebe, von der Goethe spricht. Im Gefühl wird der große Lebenszusammenhang spürbar, dass alles mit allem zusammenhängt.

Wie decke ich das Herz wieder auf

Wenn jemand nicht fühlt, dass er oder sie etwas kann, fühlt er oder sie sich trotzdem nicht gut. Wie viele Depressive kriegen von ihrem nicht professionellen Umfeld gesagt: Du bist doch so toll, hast doch einen so schönen Mann oder Frau oder tolle Kinder und einen Beruf und einen guten Job. Du hast ein Auto, Mensch, warum bist du denn nicht glücklich? Warum bist du nicht zufrieden, du kannst doch so viel? Das fühlt der Betreffende aber nicht und deshalb ist es, als wäre es nicht vorhanden. Man muss sich einfühlen können, warum jemand nicht fühlt, was er ist und hat. Wir als Therapeuten müssen fragen:

Wo muss ich bei diesem Menschen ansetzen, dass er Zugang zu einem gesunden Gefühl für sich selbst findet?

Wie decke ich das Herz wieder auf?

Das ist hier die zentrale Frage.

Vgl. Vortrag zum Chirophonetik-Treffen in Erlangen, März 2019

  1. Begründer der Salutogenese, der Lehre von Gesundheit, die im Gegensatz zur Pathogenese, der Lehre von Krankheit, in der Medizin steht.
  2. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
  3. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten? GA 10.