Erziehung zur Selbstlosigkeit durch Waldorfpädagogik

Wie möchte Waldorfpädagogik einem Überhandnehmen des Egoismus gegensteuern?

Wie hängen Selbstlosigkeit und Selbstbewusstsein zusammen?

Selbstlosigkeit statt Egoismus fördern

Wir sollten als Pädagogen wissen, wie der Prozess der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte begleitet werden muss, damit möglichst wenig an den Egoismus des Kindes appelliert (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Physiologie des Egoismus) sondern vielmehr die Fähigkeit zu echter Selbstlosigkeit veranlagt wird.

Für mich ist die beeindruckendste Aussage Rudolf Steiners über die Waldorfpädagogik folgender Satz aus dem 1. Vortrag der „Allgemeinen Menschenkunde“1: „Wir beginnen hiermit mit einer Pädagogik, die nicht auf den Egoismus baut.“ Damit meint Steiner eine Pädagogik, die nicht den Ehrgeiz stimuliert, sondern auf den Altruismus baut; die eine Erziehung zur Selbstlosigkeit praktiziert (vgl. Sinne(spflege): Ringen des Ich um Selbstlosigkeit).

Wer den Grundsteinspruch der Waldorfpädagogik2 unter diesem Aspekt liest, kann verstehen, warum Rudolf Steiner, der eine überkonfessionelle, rein menschliche Erziehung veranlagt, an dieser Stelle ein göttliches Wesen nennt - den Christus. Nach der Schilderung der Ideale und Ziele kommen folgende Worte: „Dies wollen sie (alle diejenigen, die die Schule machen: die Lehrer, der Schulvorstand, einige Eltern) bekennen in Christi Namen, in reinen Absichten, mit gutem Willen.“

Christliche Qualitäten aufsuchen

Wird in Asien eine Waldorfschule gegründet und dieser Spruch übersetzt, muss man auch übersetzen, was z.B. in Thailand „in Christi Namen“ heißt, was der Bezug zu Buddha ist und zu Qualitäten, die dem Wesen des Christus entsprechen. Dieses Wesen lebt überall, die Frage ist nur, wie der Weg dahin jeweils aussieht (vgl. Religion: Zukünftige Aufgaben der Religion).

Ich sage das hier, weil Christus

  • nicht nur „der Lehrer der Menschenliebe“ ist, wie es in der Kinderhandlung3 heißt;

  • auch „der Spender der Daseinsfreuden“ bzw. „der Tröster im Daseinsleiden“ ist, wie es in der Jugendfeier4 heißt;

  • aber auch derjenige ist, der, wie es in der Opferfeier5 heißt, uns die Möglichkeit gibt, dass wir „Christi Geist empfangen“ dürfen.

Der Egoismus muss geopfert werden, wenn das wahre Menschen-Ich Einlass finden soll. Wer sich entsprechend vorbereitet, wer also seinen Egoismus opfert und das niedere Ego in der Gewalt hat, DARF ihn empfangen, kann sich dem Höheren gegenüber öffnen. Das Selbstbewusstsein wird dann zur Schale für das wahre Ich (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit).

Schule der Selbstlosigkeit

Deswegen sagt Rudolf Steiner über den Christus – vor 100 Jahren, 1913 – in dem Zyklus „Vorstufen zum Mysterium von Golgatha“6: „Christus hat eine Schule, die große Schule der Selbstlosigkeit.“ Davon ist die Waldorfschule nur ein kleines Abbild. Die Waldorfpädagogik versucht Selbstlosigkeit zu veranlagen, indem sie den Kindern hilft, in drei Schritten ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln:

  • Entwicklung von körperlicher Stärke

Wenn ein Kind ohne traumatisierende Verletzungen durch das erste Jahrsiebt kommt, fühlt es sich körperlich stark. Das bildet die Grundlage für ein gesundes Selbstbewusstsein (vgl. Selbstbewusstsein: Ein gesundes Selbstbewusstsein erwerben).

  • Entwicklung von seelischer Stärke

Wenn ein Kind nun durch die emotionale Begleitung von Eltern und Lehrer im zweiten Jahrsiebt Weltliebe entwickelt und gute Taten zu schätzen lernt bzw. zornig über böse Handlungen sein kann, d.h. wenn es ein weltbezogenes Gefühlsleben entwickelt, erwachsen daraus ein starkes Selbstbewusstsein und großer seelischer Mut. Das Kind will dann etwas im Positiven verändern, will mitarbeiten an der Weltgestaltung, mitmachen im Weltgeschehen.

  • Entwicklung von geistiger Stärke

Im dritten Jahrsiebt kommt es zum entscheidenden dritten Schritt, zu dem die folgende Frage hinführt:

Wie können wir Jugendlichen helfen, ein so starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln, dass sie keine Angst haben müssen, es je wieder zu verlieren?

Das Aufflammen von Selbstbewusstsein markiert einen echten Endpunkt der Entwicklung: das Ende der körperlichen Reifung. Es ist zugleich ein Zeichen von Mündigkeit: Wer körperlich, seelisch und geistig zu sich selbst aufgewacht ist und ein Bewusstsein seiner selbst erworben hat, wer weiß, wer er als denkender, fühlender und tätiger Mensch ist, hat auf der Erde alles über das eigene Selbst gelernt, was es darüber zu erfahren gibt. Fortan kann dieses Selbst der Stärkung des Selbstbewusstseins anderer dienen (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen der Ich-Organisation): Das ist Dienstleistung, ist Mitarbeit bei der allgemeinen Entwicklung von menschlichem Selbstbewusstsein.

Das Selbst wird paradoxerweise umso stärker, je mehr man sich um andere kümmert, und nicht, wenn man nur an sich denkt, im Gegenteil, das schwächt einen nur. Nur ein Mensch, der kein Selbstbewusstsein hat, der sich ständig als Opfer fühlt und den Eindruck hat, etwas zu verpassen oder ausgenützt zu werden, erlebt es als Schwächung, sich um andere zu kümmern. Er verfügt von vornherein über ein schwaches Selbstbewusstsein und ist nicht in der Lage, selbstbestimmt zu arbeiten und sich freiwillig für andere einzusetzen. Ein starkes Selbstbewusstsein ist durchaus mit Altruismus vereinbar – beides bedingt sich sogar gegenseitig.

Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013

  1. Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293.
  2. Grundsteinspruch für die Freie Waldorfschule Stuttgart: „Es walte, was Geisteskraft in Liebe …“. In: Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269, S. 167.
  3. In: Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269.
  4. Ebenda.
  5. Ebenda.
  6. Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. GA 152.