Förderlehrer und Schularzt damals und heute

Wie stand die Ur-Waldorfschule zur Inklusion?

Wie sollten Förderlehrer und Schularzt heute zusammenwirken?

Warum gehört in jede Schule ein Arzt, nicht nur ein Schulpsychologe oder eine school nurse (Schulkankenschwester), wie es sie in vielen englischsprachigen Schulen gibt?

Aufgaben des Schularztes

Um mit der letzten Frage zu beginnen: Selbstverständlich ist es viel besser, einen Schulpsychologen oder Pfleger zu haben als niemanden dergleichen. Doch der Schularzt sollte nicht nur den Gesundheitszustand eines jeden Kindes kennen, sondern die ganze Schule dahingehend im Blick haben. Dazu gehört auch die Lehrergesundheit. Das war Rudolf Steiner ganz wichtig

Karl Schubert war Förderlehrer, ein echter Inklusionslehrer. Er hatte die „Hilfsklasse“ und nahm jedes Kind auf, das man ihm brachte. Zwei Jahre später, 1921, stieß zur großen Freude Rudolf Steiners der österreichische Arzt Eugen Kolisko zum Kollegium hinzu. Ab da erwähnte Rudolf Steiner überglücklich in jedem Vortrag, den er in einem größeren Zusammenhang hielt, dass jetzt auch ein Arzt an der Schule sei.

Für die Lehrergesundheit sorgen

Auf den seit 1978 jährlich am Goetheanum stattfindenden Weiterbildungen zum Kindergarten- und Schularzt, findet ein reger Austausch darüber statt, wie wichtig es ist, Lehrer rechtzeitig „aufzuspüren“, bevor sie krank werden. Es macht Sinn, sie für 4 Wochen zu beurlauben, bevor sie gänzlich erschöpft sind und ernsthaft krank werden. Auf diese Weise sind die Fehlzeiten kürzer und die Zeit der Krankschreibung kann für Erholung und Unterrichtsvorbereitung genützt werden. Ich habe es immer sehr bedauert, wenn Lehrer einen gesundheitlichen Zusammenbruch erlitten und oft auch aus Rücksicht gegenüber den vertretenden Kollegen wieder zu früh in die volle Unterrichtsbelastung eingestiegen sind. Unnötiger Kräfteverschleiß ist die Folge. Wir müssen diesbezüglich umdenken lernen.

Vor allem sollte im normalen Zeitbudget vorgesehen sein, dass jeder Lehrer zwei Förderstunden pro Woche für die Schüler der eigenen Klasse haben darf. Warum? Weil der eigene Lehrer in der Regel auch der beste Förderlehrer ist und die Durchführung von Förderunterricht zugleich die nachhaltigste Fortbildung und Kompetenzerweiterung für ihn ist. Er lernt seine Schüler besser zu verstehen und seinen Unterricht differenzierter vorzubereiten.

Ärztliche und pädagogische Intuition

Als Lehrer Fortbildungen zu Inklusionspädagogik, Sonderpädagogik, Förderpädagogik bei bestimmten Krankheitsbildern zu besuchen. ist zwar interessant, doch wird daraus noch keine inklusive Unterrichtspraxis. Man kann sich heute auch im Internet fachlich hervorragende Videos anschauen und sich so weiterbilden. Wirkliche Kompetenz wird nur durch Tun erworben – durch Versuch und Irrtum und vor allem durch liebevolle Hinwendung zum einzelnen Kind. Natürlich können dabei Förderlehrer, Schularzt, Heileurythmist und Sprachgestalter eine entscheidende Hilfe sein.

Erst indem der Lehrer so etwas wie ärztliche Intuition erwirbt, wird Pädagogik heilsame Auswirkungen haben. Meine Erfahrung ist, dass die ärztliche und die pädagogische Intuition ganz nahe beieinander liegen. Es geht um dieselbe Haltung, weshalb beide Berufe sehr viel voneinander lernen können. Denn beide stellen dem Kind (oft nur innerlich) die gleichen Fragen:

Wie kann ich dir am besten helfen?

Was brauchst du von mir?

Wie kann ich dich mit meinen Fähigkeiten auf deinem Weg so begleiten, dass du bestmöglich zu dir kommst, dass du die oder der werden kannst, der oder die du werden möchtest?

Waldorfpädagogik als ursprünglich inklusive Pädagogik

Die inklusive Pädagogik gehörte zum Grundkonzept der ersten Waldorfschule1 und war leitendes Ideal bis zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft 1935 durch die Nationalsozialisten, was auch die Schließung der Waldorfschulen zur Folge hatte.

Nach Ende des zweiten Weltkrieges begannen die Waldorfschulen wieder neu. Es fing pionierhaft an: Man heizte mit Öfen in den Klassenzimmern, die Kinder brachten Kohlen und auch anderes mit, was in der Schule fehlte. Auch Karl Schubert kam 1946 wieder zurück an „seine Schule“ und brachte „seine Schüler“ mit. Karl Schuberts Förderklasse war die einzige Waldorfklasse, die nicht geschlossen wurde, die von der Grundsteinlegung der Waldorfschule an durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurch weiterbestand. Mehrmals entgingen Karl Schubert und seine Kinder wie durch ein Wunder der Deportation. Somit hat die inklusive Waldorfpädagogik den Krieg in ungebrochener Kontinuität überdauert.

Ende der Inklusion nach dem Krieg

Trotzdem entschied sich das Lehrerkollegium nach dem Krieg gegen die Wiederaufnahme des Förderbereiches. Man wollte die Differenzierung in eine Schule für seelenbedürftige Kinder und Jugendliche und eine „normale“ Waldorfschule. Dass dieser Entscheid verständlich war – schon um den Ruf zu überwinden, die Waldorfschule sei eine „Dummenschule“ – liegt auf der Hand. Da ich selbst seinerzeit auf diese Schule gegangen war, kann ich mich noch gut erinnern, wie wir damals von Schülern anderer Schulen diesbezüglich gehänselt wurden. „Dummenschule“ wurde uns nachgerufen. Worauf wir stolz erzählten, schon Englisch- und Französisch-Unterricht zu haben und betonten, dass es keine „schwierigen“ oder „dummen“ Kinder in unserer Klasse gäbe.

Karl Schubert war nur noch als Religionslehrer willkommen und studierte die Oberuferer Weihnachtsspiele ein, für die er die Regieanweisungen von Rudolf Steiner erhalten hatte. Seine Förderklasse wurde zum Grundstock der späteren Karl-Schubert-Schule. Sein wichtigstes Anliegen war es gewesen, auszustrahlen, dass jedes Kind in der Schule willkommen ist, dass es hier Erwachsene gibt, die um jedes Kind kämpfen. Das war mit dieser Teilung vorbei.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012

  1. Dietrich Esterl, Die erste Waldorfschule: Stuttgart Uhlandshöhe 1919-2004. Daten – Dokumente – Bilder. DRUCKtuell Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Gerlingen 2006.