Jede Erziehung ist Selbsterziehung

Nach welchen Bedingungen vollzieht sich Selbsterziehung?

Wovon hängt ab, womit ein Mensch in Resonanz geht, um sich weiterzuentwickeln?

Pädagogen schaffen Umgebung für Selbsterziehung des Kindes

Rudolf Steiner formuliert in seinem Basler Lehrerkurs, dass jede Erziehung im Grunde genommen Selbsterziehung sei.1 Der Lehrer müsse nur eine möglichst günstige Umgebung schaffen, in der sich das Kind so erziehen kann, wie es sich nach seinem innersten Wesen erziehen muss.

An dem Muss habe ich mich zunächst gestoßen: Das Muss ist jedoch die karmische Prädisposition. Man hat nur das in seinem „seelisch-geistigen Resonanzboden“, was man sich im Laufe seiner Erdenleben errungen hat. So ist das Muss ein Ich-will aus früherer Zeit (vgl. Wesensglieder: Wesensglieder und Krankheit). Wenn jemanden große Altlasten in seinem Karma trägt, schwingt das mit.

Dennoch gibt es in jeder Seele auch einen „Goldgrund“ der aus Urzeiten stammt und mit dem sie in Resonanz gehen kann. Das heißt, jedes Kind ist zu einer feinen, rein menschlichen Ur-Resonanz fähig, auch wenn es mit größten karmischen Schwierigkeiten, Schicksalsbelastungen oder konstitutionellen Herausforderungen zu kämpfen hat. Wir gehen davon aus, dass dieser Goldgrund im Untergrund jeder Seele als Voraussetzung da ist, als eine Art Gottesgrund in jedem von uns. An ihn will die Waldorfpädagogik anschließen, will ihn in Schwingung versetzen und zur Kraftquelle werden lassen, sodass das betreffende Kind seine Biografie menschenwürdig gestalten kann.

Schlummernde Fähigkeiten zu höherer Erkenntnis

Das ist der zentrale Nerv, das eigentliche Anliegen der Waldorfpädagogik. Daher sollte auch am Anfang der Lehrerausbildung die Anforderung stehen, sich mit dem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?"2 zu beschäftigen – gerade, weil es mit folgendem Satz beginnt: „Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann."

Dass das wirklich so ist, davon konnte ich mich als Kinderärztin immer wieder überzeugen, denn ich hatte vor allem Babys und Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren zu untersuchen – und das ist das Lebensalter, in dem Erziehung von außen nicht greift. Die Kinder erziehen sich vielmehr selbst aus ihrem Gottesgrund heraus zu aufrechten, sprechenden und denkenden Wesen – und das ist bekanntlich die umfassendste Lernleistung des Kindes, an die sich in der weiteren Entwicklung alles andere anschließt. (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen – Sprechen – Denken: Embryonale Leibwerdung und Bildebewegungen). Daran schließt in der weiteren Entwicklung alles andere an.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012

  1. Rudolf Steiner, Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. GA 301. Dornach 1991.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993.