Pädagogischer Umgang mit den fünf Ebenen des Menschseins

Wie nimmt die Waldorfpädagogik Einfluss auf die fünf Ebenen des Menschseins?

Welche konkreten Maßnahmen kann der Lehrer ergreifen, um auf sie einzuwirken?

1. Einflussnahme auf die physische Ebene über die Sinne und den Raum

Im Physischen spielt die Vererbung eine wichtige Rolle. Doch werden die Gene heute dank der Epigenetik als offenes System verstanden – eine Tatsache, von der Rudolf Steiner immer ausgegangen ist (vgl. Gesundheit: Neue Strategien in der Gesundheitsvorsorge).

  • Er erläuterte den Ärzten gegenüber, wie sie z.B. durch gute Fieberbehandlung zur Veränderung des Erbguts beitragen können.

  • Zu den Pädagogen sagte er, dass Impfung kein Problem darstelle, wenn die betroffenen Kinder eine spirituelle Erziehung bekämen, denn das Erbgut ließ sich auch durch Erziehung verwandeln.

Der Hauptansatzpunkt für die Verwandlung des physischen Leibes sind die Sinne (vgl. Sinne(spflege): Aufgabe der Sinne). Denn der physische Leib ist sinnesoffen, d.h. über Sinne und mithilfe der Spiegelneuronen sind Kinder fähig zur Nachahmung. Doch alles, womit ein Kind über Sinneseindrücke in Resonanz geht, wirkt sich auch auf die Bildung des physischen Leibes aus. Wenn wir das wissen und ernst nehmen, werden wir beginnen uns in Bezug auf einzelne Kinder mit Unterstützungsbedarf zu fragen:

Welche Eindrücke brauchst Du, dass sich Dein Leib mit Hilfe Deiner Geisteskräfte, die ich in ihrer Tätigkeit unterstützen will, so formen kann, wie es für die Erfüllung Deines Schicksals optimal ist?

In diesen Bereich gehört auch der Schulbau, die Farbgebung, die Einrichtung und Gestaltung des Klassenzimmers, die Gartengestaltung, die Bekleidung, die Ernährung. Alles das sollte bei Bedarf auch mit Blick auf jedes einzelne Kind hinterfragt werden. Um die genannten Faktoren jedoch zum individuellen Wohle jedes Kindes einsetzen zu können, brauchen wir ein Team aus Schularzt, Förderpädagogen, Sprachtherapeuten, Spezialisten für Bewegung und Körperarbeit und Ernährungsexperten, wie es im Urkonzept der Waldorfschule vorgesehen ist – selbstverständlich ergänzt durch die Möglichkeiten, die wir heute haben.1

2. Einflussnahme auf die ätherische Ebene über zeitlich-rhythmische Prozesse

Auf dieser Ebene kommt der altersentsprechende Lehrplan zum Tragen (vgl. Waldorfpädagogik: Entwicklungsphasen und Pädagogik im Schulalter). Jeder Unterrichtsprozess verläuft in der Zeit, braucht Rhythmus und Wiederholung (vgl. Lebensrhythmen: Pflege von Lebensrhythmen1 in der Kindheit). Auch die Rücksichtnahme auf die Prozesse, die im Wechsel von Tag und Nacht sowie im Jahreslauf wirksam sind, gehört hier dazu. Im Folgenden ein paar Worte zu vier wichtigen menschlich-kosmischen Rhythmen (vgl. Lebensrhythmen: Vom Umgang mit Lebensrhythmen gestern und heute).

  • Der 24-Stunden-Rhythmus – Ich-Organisation

Ich-Organisation und Willen des Kindes werden gestärkt, wenn sie bewusst gepflegt werden durch

  • ein Tagesritual mit jedem Kind in Form von individueller Begrüßung und Anerkennung seines So-Seins

  • den Morgenspruch

  • individuelle Ermutigung und ggf. auch Aufgabenstellung, was für Hochbegabte ebenso wichtig ist wie für minderbegabte Schüler. (Die 0/8-15-Hausaufgaben sind unter diesem Aspekt ein konventioneller Gräuel)

  • die Art der Verabschiedung

  • Blickkultur, die Art, wie und wann man ein Kind ansieht: Echter Blickkontakt bedeutet Ich-Erkraftung für das Kind, vermittelt ihm, dass es gesehen, angenommen, erkannt wird.

Im Einzelfall lässt sich noch vieles andere finden, was wir zur Befestigung der Ich-Organisation und des Willens täglich – also im 24-Stunden-Rhythmus – tun können.

  • 7-Tage-Rhythmus – Ätherleib (reaktiv heilend)

Im Hinblick auf den 7-Tages-Rhythmus der Woche sei auf die Ergebnisse der Rhythmusforschung2 verwiesen, die ihn als reaktiv heilend klassifiziert. Unter rhythmologischen Gesichtspunkten ist es angesichts der fünf Schultage eine schädliche „Un-Rhythmik“, in der Woche jeweils zwei Rhythmen zu pflegen: eins-zwei-drei-vier-fünf (Montag bis Freitag) und eins-zwei (Samstag und Sonntag). Das bedeutet: Mit der Fünf, der Zahl der Krise, bricht die Schulwoche ab. Der Prozess der 7-Tages-Rhytmik stagniert bezogen auf die von Steiner beschriebenen sieben Lebensprozesse im Prozess der „Erhaltung“. Zu „Wachstum“ und „Reproduktion“ kommt es nicht mehr. Stattdessen beginnt ein neuer Rhythmus am Wochenende, der anders ist und mit eins-zwei endet – wobei hier wiederum der entscheidende dritte Schritt fehlt.

Ich spreche daher bei allen passenden Gelegenheiten die Empfehlung aus, wenn es irgend geht, den Samstag wieder in das Schulleben miteinzubeziehen, z.B. in Form von klassenweise gut organisierter Zeit für Hausaufgaben in bestimmten Elternhäusern, möglichst zur selben Zeit wie der Vormittagsunterricht. Es wäre heilsam und stärkend, wenn die Schüler am Samstag einen in diesem Sinne gut begleiteten Vormittag erleben könnten, an dem sie in kleinen Gruppen ihr Hausaufgabenpaket der Woche abarbeiten. Sie wären dann an den normalen Schultagen von Hausaufgaben entlastet und hätten mehr Zeit für Bewegung, Hobbys, Kunst u.a.m.

  • Monatsrhythmus – Ätherleib (regenerativ heilend)

Der 4-Wochen-Rhythmus ist der wichtigste regenerative Heilrhythmus. Er dient der Stabilisierung und Befestigung des Ätherleibes. Eine Epoche ist kein Fach, sondern verfolgt eine bestimmte Idee. Das kann man anhand der Lehrplanvorträge3 studieren am Beispiel der Gesundheitslehre: Gesundheitslehre wird in Verbindung mit den Wirtschafts- und Verkehrsverhältnissen behandelt, auch wenn Wirtschaft, Verkehr und Gesundheit äußerlich betrachtet unterschiedliche Fächer betreffen. Ihnen liegt aber dieselbe Idee zugrunde – die Idee, einen gesunden Ausgleich herzustellen: wo Mangel herrscht, auszugleichen, wo Fülle herrscht, abzutransportieren, also einen gesunden Waren-, Geld-, Verkehrs- und Blutkreislauf herzustellen.

Epochen sollten bestimmte Ideen zugrunde liegen, die in Ruhe von verschiedenen Fächern her beleuchtet werden – in 4-Wochen-Blocks und nicht in drei oder zwei Wochen, wie es momentan oft der Fall ist. Diese kurzen Epochen sind für den Ätherleib nur eine Notlösung, aber keine Stärkung. Wird eine Idee, z.B. die Idee der Gesundheit, von verschiedenen Fächern aus beleuchtet, entsteht ein reiches, interessantes Panorama des Lebens, zu dem die Schüler viel beisteuern, von dem sie viel profitieren können.

  • Jahresrhythmus – physischer Leib

Der Jahresrhythmus wird über die christlichen Jahresfeste, den Seelenkalender4 und über Gedenktage gepflegt als Impuls, der zur Stabilisierung des physischen Leibes beiträgt. Bis ins späteste Alter sind die Feste etwas Wunderbares für die Sinne (vgl. Lebensrhythmen: Der Jahresrhythmus).

3. Einflussnahme auf die astrale Ebene über Kohärenz

Astrale Kultur ist Beziehungskultur. Aaron Antonowsky brachte mit seinem Kohärenz- und Salutogenesekonzept5 zur Sprache (vgl. Gesundheit: Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit ), was auch Rudolf Steiner bereits deutlich betonte und in der Kinder-Sonntagshandlung wunderbar formulierte: „Wir lernen um die Welt zu verstehen. Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zu einander belebt alle Menschenarbeit. Ohne die Liebe ist das Menschensein öde und leer. Christus ist der Lehrer der Menschliebe.“6

Antonowskys Forschungen haben ergeben, dass es auf den Menschen gesundend wirkt, wenn er versteht, was geschieht (understandibility), einen Sinn bzw. eine persönliche Bedeutung darin sehen kann (meaningfullness) und diese Einsichten entsprechend handhabt (managebility). Er nennt diese Dreiheit den „sense of coherence“, den Kohärenzsinn.

  • „Wir lernen, um die Welt zu verstehen.“: Wenn man etwas lernt, es jedoch nicht versteht, ist das kränkend; und wenn man etwas versteht, aber nicht sinnvoll finden bzw. bejahen kann, so wird es zu einer Belastung.

  • „Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten.“: Antonowsky spricht von Handhabbarkeit, von der Fähigkeit, mit den Anforderungen konstruktiv umzugehen. „Yes, we can“, war Obamas klug gewählter Slogan. Den Eindruck zu haben, dass man etwas bewältigen kann, macht gesund.

  • „Die Liebe der Menschen zu einander belebt alle Menschenarbeit.“: Das ist wohl das schwierigste: Die Liebe für die anderen aufzubringen, die alle Menschenarbeit belebt und Sinn schenkt.

  • „Ohne die Liebe ist das Menschensein öde und leer.“: Ein junger Mann, der sich zum Terroristen hat ausbilden lassen, sprach nach seinem Ausstieg aus der Gewaltszene von der Öde, Leere und Langeweile, von denen seine lieblose Welt durchdrungen war.

All diese Empfindungen sind in der Sonntags-Kinderhandlung gleich einem salutogenetischen Manifest formuliert und integriert. Daran wird auch deutlich, warum eine ethisch-religiöse Lebenshaltung für den Lehrer unabdingbar ist. Dazu gehören Werte wie Wahrhaftigkeit, Verstehen-Wollen, Liebe, Interesse, Handlungsbereitschaft, Sinnsuche, Respekt vor der Autonomie des anderen. Nur dann ist er wirklich in der Lage, den anderen Kollegen bzw. seine Schüler zu sehen, anzunehmen, einzubeziehen, zu motivieren, ihnen Raum zu geben – Faktoren, die die Grundlage pädagogischer Kultur- und Entwicklungsarbeit bilden.

Auf die nächsten beiden Ebenen kann der Lehrer nur indirekt – über die Arbeit an sich selbst – einwirken. Das ist eine sehr hohe Anforderung (vgl. Waldorfpädagogik: Lehrertugenden und Professionalität).

4. Einflussnahme auf die Ich-Ebene über Entwicklung von Menschlichkeit

Zur Stärkung von Ich-Organisation und Identitätsbildung sind vor allem die folgenden Übungen zu nennen, die Ich und Identität des Lehrers stärken helfen:

Das Ringen um die Einhaltung der sieben Bedingungen macht eine Entwicklung zur Freiheit in größtmöglichem Umfang erst denk- und realisierbar, weil sie die Lernbedingungen für einen Erwachsenen sind, der sich selbst und sein Umfeld menschlicher gestalten möchte (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Selbstschulung gegen Angst).

5. Einflussnahme auf die Ebene der „quinta essentia“ (vgl. Waldorfpädagogik: Die fünf Ebenen des Menschseins)

Allem voran brauchen und erwarten die Schüler, dass der Lehrer beherrscht oder zumindest daran arbeitet, was sie selber lernen wollen: authentische, selbständige, lebensfrohe Menschen zu werden. Ein Mensch, der weiß, warum das Leben auf der Erde Sinn macht, und dass Probleme dazu da sind, dass man daran lernt und sie löst.

In der positiven Psychotherapie unterscheidet man problemorientierte und ich-orientierte Menschen.

  • Ich-orientierte haben stets sich und ihr Wohl und Fortkommen im Auge und suchen meist bei anderen oder in den Verhältnissen des Lebens die Schuld für ihre Sorgen und Probleme. Sie befinden sich noch auf dem Weg der Selbstfindung und brauchen deshalb andere Formen der Unterstützung als Problemorientierte.

  • Problemorientierte suchen Partner, die ihnen bei der Problemlösung helfen. Ihr Selbstbewusstsein ist gesund und stabil. Sie bemühen sich um Formen der Team- und Gemeinschaftsbildung, die zur Lösung der kleinen und großen Probleme von Mensch und Welt beitragen können.

Es geht bei der Ebene der Quinta Essentia keineswegs darum, den Schülern die eigene Weltanschauung und Lebenstechnik beizubringen, wohl aber den Schülern vorzuleben, wie gut es ist, eine Weltanschauung zu haben, die man sich selber erarbeitet hat. Die Waldorfschule ist keine Weltanschauungsschule, sondern eine Schule, in der möglichst jeder Schüler lernen kann, seine eigene Weltanschauung zu formen. Das gelingt besonders gut, wenn er Lehrer hat, die ihm diesbezüglich Vorbild und Ansporn sind.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012

  1. Michaela Glöckler, Erziehung als therapeutische Aufgabe. In: Peter Loebell (Hrsg.), Waldorf-Schule heute. 1. Aufl. der Neuausgabe. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2011.
  2. Gunther Hildebrandt, Chronobiologische Aspekte des Kinder- und Jugendalters. Bildung und Erziehung 47:452-456 1994.
  3. Rudolf Steiner, Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge. GA 295. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984.
  4. U.a. in: Rudolf Steiner, Wahrspruchworte, GA 40.
  5. Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997.
  6. In: Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269.
  7. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10;
    siehe auch: Geheimwissenschaft im Umriss. Kap. „Die Erkenntnis der höheren Welten“ (von der Einweihung oder Initiation). GA 13. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989.