Zu den menschenkundlichen Grundlagen von Wissenschaft, Kunst und Religion

Wie hilft das Konzept der Wesensglieder den Zusammenhang von Wissenschaft, Religion und Kunst zu verstehen?

Welche neuen Impulse für alle drei Bereiche können daraus entstehen?

Seit jeher zielten die wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Bestrebungen darauf ab, den Menschen mit der geistigen Welt zu verbinden. Das bildete die Grundlage der jeweiligen kulturellen Verhältnisse.

Verbindung von Wissenschaft, Religion und Kunst

Mit dem Heraufziehen des Nominalismus, der die materialistische Wissenschaft ermöglichte, löste sich insbesondere die Naturwissenschaft von der Geisterkenntnis: Sie entwickelte das Ideal einer objektiven, vom Menschen-Ich unabhängigen Wissenschaft.

Dadurch verlor auch die Kunst die Möglichkeit, unmittelbar geistig Geschautes oder Gedachtes zur Offenbarung zu bringen und wurde so mehr und mehr zu einer Freizeit- und Feiertagsbeschäftigung. Das religiöse Leben schließlich wurde zur Privatsache erklärt und spielt im öffentlichen Leben nur noch eine untergeordnete Rolle.

Es gehört zu den großen Geschenken der Anthroposophie, diese drei Urquellen menschlich-kultureller Tätigkeit wieder an die konkrete Geisterkenntnis und Geisterfahrung angeschlossen zu haben. In den drei Phasen der Entwicklung der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft wurde

  1. zuerst die Wissenschaft erneuert,

  2. dann die Kunst

  3. und schließlich auch die Religion als eigenständige Bewegung für religiöse Erneuerung.

Doch das ist erst ein Teil der großen Aufgabe. Denn es geht nicht nur darum, diese drei Gebiete zu erneuern und an das konkrete Geistesleben wieder anzuschließen.

Neue Impulse im Sozialen

Vor allem geht es darum, die drei Bereiche in ihrem lebendigen Zusammenwirken zu erkennen und dieses Zusam¬menwirken zur Grundlage neuer Sozialgestaltungen zu machen (vgl. Soziales Leben und soziale Dreigliederung: Der anthroposophische Sozialimpuls). So sagt uns Rudolf Steiner am 30. Januar 1923:

„So beginnt Anthroposophie überall mit Wissenschaft, belebt ihre Vorstellungen künstlerisch und endet mit religiöser Vertiefung; beginnt mit dem, was der Kopf erfassen kann, geht heran an dasjenige, was im weitesten Umfange das Wort gestalten kann und endet mit dem, was das Herz mit Wärme durchtränkt und das Herz in die Sicherheit führt, auf dass des Menschen Seele sich finden könne zu allen Zeiten in seiner eigentlichen Heimat, im Geistesreich. So sollen wir auf dem Wege der Anthroposophie ausgehen lernen von der Erkenntnis, uns erheben zur Kunst und endigen in religiöser Innigkeit“.1

Ursprungsort wissenschaftlicher, künstlerischer und religiöser Betätigung ist der dreigliedrige Mensch, der mit Hilfe seines Denkens zum Wissenschaftler wird, mit Hilfe seines Fühlens künstlerisch empfinden und gestalten lernt und mit Hilfe seines Wollens zur religiösen Hingabe fähig ist.

Im „Französischen Kurs“2 schildert nun Rudolf Steiner den Zusammenhang der menschlichen Wesensglieder mit Wissenschaft, Kunst und Religion:

  • Physischer Leib – heutige Naturwissenschaft;

  • Ätherleib – wahre Philosophie, die zum lebendigen Denken hindurch stößt;

  • Astralleib – Kosmologie, das sich erkennende Eins-Fühlen der Seele mit dem gesamten Weltenall;

  • Ich – Religion, die Hingabe von Wesen an Wesen.

Wesensgliederwirken in Geist, Seele und Leib

  • Ich-Organisation und Geist (Denken)

Rudolf Steiner und Ita Wegman führen im zweiten Kapitel von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“ aus, dass sich beim Nervensinnessystem die Ich-Organisation seelisch frei im Denken darlebt3. Dieser Tatsache verdanken wir es, dass wir uns beim Denkvorgang nicht nur leibbefreit und ganz „bei der Sache“ fühlen, über die wir nachdenken, sondern dass wir uns dadurch auch selbst geistig gegenüberstehen können und uns distanziert von uns selbst erleben. Wir können uns die erstaunliche Tatsache klarmachen, dass wir uns beim Denken außerhalb des Leibes befinden – was wir normalerweise nicht realisieren und auch nicht davon wissen. Denkend überschreiten wir alle die Schwelle zur geistigen Welt – nur eben unbewusst (vgl. Gedankenkraft: Gedanken als Brücke zur Geisterfahrung).

  • Astralleib, Ich-Organisation und Seele (Fühlen)

Blicken wir auf das Gefühlsleben, so sehen wir, wie auch hier Ich und Astralleib weitgehend außerhalb des Leibes wirksam sind. Der Astralleib dringt bei der Einatmung tiefer in das Leibesgefüge ein und wird bei der Ausatmung wiederum dem mit der Welt mitlebenden und mitempfindenden Ich zurückgegeben. Auch hier gehen wir real teilweise aus dem Leib heraus, ohne uns dessen im gewöhnlichen Leben bewusst zu sein.

  • Alle vier und Stoffwechsel-Leib (innerer Wille)
Beim Stoffwechsel hingegen sind alle vier Wesensglieder eng miteinander verbunden und vollständig im Leib inkarniert, sodass sich der volle Schwellenübertritt erst im Tode vollzieht.

Wesensglieder und Wissenschaft, Kunst und Religion

Wie hilft das Konzept der Wesensglieder den Zusammenhang von Wissenschaft, Religion und Kunst zu verstehen?

Wenn das Ich bewusst im Denken tätig ist und auch der Wille im Denken erwacht, kann es zur geistigen Kommunion kommen, zum „Wahrnehmen der Idee in der Wirk-lichkeit“.4

Das von der Mitte ausgehende künstlerische Bemühen kann, so gesehen, einerseits zu neuen Erkenntnissen führen, andererseits aber auch unmittelbar in religiöses Erleben überleiten.

Jetzt wird auch verständlich, warum die christliche Religion als heiligstes Mysterium die Ver¬wandlung von Brot und Wein und die Vergeistigung der Substanz durch den Verdauungsvorgang zum Inhalt hat: Die Verwandlung ist ein ganz ursprünglicher, eigenstän¬diger religiöser Vorgang, der sich auf leiblicher, seelischer und geistiger Ebene vollziehen kann, wenn alle vier Wesensglieder unter der Führung des Ich im dreigliedrigen Menschen zusammenwirken.

Es ist Aufgabe des heutigen Menschen, sich nicht nur seine Geistverlassenheit bewusst zu machen, sondern auch zu erkennen, dass sein Denken seinem Ich die Möglich¬keit gibt, bewusst in der Welt der Gedanken, also in einer geistigen Welt, zu leben. So kann der Mensch dank seines Ich, wenn es einen konkreten geistigen Inhalt aufnimmt, auf Gedankenwegen bewusst die Schwelle über¬schreiten (vgl. Schwellenerfahrung: Die Schwelle zur geistigen Welt) und kann sein Denken als Brücke über den Abgrund erleben.

Von diesem geistdurchleuchteten Gedankenleben aus können dann auch das Gefühls- und das Willensleben neue Impulse bekommen und zu geistorientiertem, künstlerischem und sozialem Handeln angeregt werden.

Vgl. 2. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993

  1. Rudolf Steiner, Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, GA 257, 1989.
  2. Rudolf Steiner, Kosmologie, Religion und Philosophie, GA 25, 1979.
  3. Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27, 1991.
  4. Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller. GA 2, 1979.