Die Aufgabe der Angst

Hat Angst eine Aufgabe hinsichtlich der Entwicklung des Menschen?

Das ist eine sehr schöne Frage, denn Angst hat eine Aufgabe. Ich möchte Wege aufzeigen, wie wir mit unserer Angst konstruktiv umgehen können, wie wir lernen können, immer besser damit zurechtzukommen.

Körperliche, seelische und geistige Angstreaktionen

Die körperlichen Angstreaktionen sollen uns vor Gefahren schützen. Ein kleines Beispiel: Wenn mir etwas ins Auge fliegt, kneife ich reflektorisch die Augenlider zusammen, sodass nichts eindringen kann. Ich bin dann dankbar dafür, dass der Lidschlag mich vor einem gefährlichen Objekt geschützt hat, bevor es die Netzhaut irritieren oder sogar verletzen konnte. Die Angst löst eine physiologische Schutzreaktion aus.

In unserer Seele erleben wir Angst als äußerst unangenehm, so sinnvoll sie auch sein mag. Es gibt eine große Vielfalt an Angstreaktionen – ich kenne einige davon aus eigenem Erleben. Was vom wissenschaftlichen Standpunkt aus für mich als Ärztin so faszinierend ist, sind die Symptome, die der Mensch zeigt, wenn er Angst hat. Es gibt kaum ein Krankheitssymptom, das nicht von der Angst ausgelöst werden könnte.

Geistig weckt uns Angst auf für Probleme und Defizite, die wir haben. Wenn wir keine Angst hätten, würden wir uns für bestimmte Fragen gar nicht interessieren. Angst erregt unsere Aufmerksamkeit, wirft Fragen auf, und wenn wir ihnen nachgehen, damit arbeiten und Antworten finden, führt das dazu, dass sich unser Bewusstsein erhöht und erweitert. Sie ist eine Begleiterscheinung von Entwicklung.

Sinn und Aufgabe von Angst

Die Aufgaben der Angst im Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen lassen sich so zusammenfassen:

  • Die erste Aufgabe besteht darin, dem Menschen zu helfen, immer wacher zu werden. Angst möchte uns auf Neues, noch nicht Gedachtes und Gelebtes aufmerksam machen.

  • Die zweite Aufgabe besteht darin, den Menschen herauszufordern, die eigene Identität wirklich zu befestigen, sie denken und erfahren zu lernen, sodass er begreift: Ich bin in dieser Welt, wurde hier geboren und sterbe hier, aber ich komme aus einer anderen Welt, in der ich den Zerfallsprozessen aus Raum und Zeit nicht unterworfen bin (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit).

Es geht darum, sich im Zuge der Identitätsbildung klar zu machen, mit welcher Dimension man als Mensch umgeht durch die Tatsache, dass man denken kann. Man muss die Macht der unsichtbaren, rein spirituell fassbaren Gedanken ganz neu entdecken, die Macht der Gedanken, die überräumlich und überzeitlich in sich selbst bestehend vorhanden sind. Ich kann den Gedanken meines eigenen Wesens denken, kann im Denken mich selbst erleben als ein übersinnliches, rein spirituelles, energetisches Wesen (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen).

Wenn diese Identitätsbildung gelingt, ist die zweite Aufgabe der Angst erfüllt: Uns Menschen, die in einer Welt des Vergänglichen leben, in Beziehung zu bringen mit der Welt des Unvergänglichen, und uns aufzufordern, darin unser wahres Wesen zu entdecken.

Erlösung von Todesangst

Der bereits verstorbene Psychiater Bernard Lievegoed erzählte uns jüngeren Ärzten gerne, wie er die Angst vor dem Sterben verlor. Er saß im 2. Weltkrieg mit seinen Kameraden im Schützengraben, als eine Granate kam und seinen Freund innerhalb von Sekunden vernichtete. Er selbst wurde nur ganz leicht verwundet, stand aber unter Schock. Er befand sich in einem gelockerten Zustand, war ganz sensibel und weit offen und sah plötzlich am Horizont eine Lichtgestalt, die sich näherte. Für ihn sah es so aus, als wäre sie bis zu den Knien in der Erde versunken, als würde sie durch die Erde schreiten. Sie näherte sich seinem Freund, nahm ihn in die Arme. Bernard Lievegoed sah seinen Freund ganz klar, lebendig und unversehrt mit dieser Lichtgestalt langsam auf den Horizont zugehen.

Er sagte, dass dieses Erlebnis ihn lebenslang davor beschützt hätte, sich vor dem Tod zu fürchten – ein klassisches Beispiel eines persönlichen Schicksalserlebnisses, das den Betroffenen in sich selbst bestärkte.

Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“, 14. Februar 2007