Rubikon-Erlebnis und seelische Trennungsängste

Welche Ängste entwickelt ein Kind am Rubikon und wodurch werden sie ausgelöst?

Die Entwicklung des Gefühls, das ja der Träger seelischer Ängste ist, beginnt mit dem Rubikon-Erlebnis, um das 9. Lebensjahr, bei dem das Kind erstmals im Seelischen Trennung von den Eltern und seinem Umfeld erlebt. Die Leibesangst, die bis zur Schulreife geht, ist jetzt weitgehend überwunden, seelische Ängste treten jetzt in den Vordergrund.

Erwachen des Daseins-Bewusstseins

Beim Rubikon-Erlebnis kommt es zur Durchtrennung einer Art seelischen Nabelschnur: Das Kind erlebt sich plötzlich seelisch getrennt und isoliert von seiner Umgebung und entwickelt dadurch seelische Trennungsängste. Um in der Sprache der Lernpsychologie zu sprechen, könnte man auch sagen, dass zu diesem Zeitpunkt eine Art Metabewusstsein erwacht, sodass das Kind in der Lage ist, plötzlich sein eigenes Denken und Dasein bewusst zu fühlen. Dadurch erlebt es sich von den anderen getrennt.

Mein Rubikon-Erlebnis kulminierte in der typischen Frage vieler Kinder an die Eltern:

Woher wisst ihr denn, dass ich wirklich euer Kind bin?

Könnt ihr mir das denn beweisen?

Ich wusste, dass ich im Bethesda-Krankenhaus in Stuttgart zur Welt gekommen war – ich fuhr jeden Tag mit der Straßenbahn daran vorbei. Ich hätte als Baby aber auch vertauscht worden sein können…

Woher also nahm meine Mutter ihre Sicherheit in Bezug auf mich?

Ich selbst war völlig verunsichert, so stark habe ich das Getrenntsein empfunden.

Dieser Jemand, der die seelische Nabelschnur durchtrennt, ist man im Rubikon jedoch selbst: Man zweifelt plötzlich, ob wirklich alle es gut mit einem meinen. Das erstreckt sich selbst auf die nächsten Menschen – zumal man entdeckt, dass man es ja selbst auch manchmal anders meint…

Entwicklung von cäsarischem Mut

Rudolf Steiner benützte das Bild eines Flusses, an dem Cäsar in eine Schlacht zog. Über diese Schlacht sagte Cäsar sinngemäß: Die Würfel sind gefallen (alea iacta est) – jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück! Das ist ein Wort des Mutes.

Diesen cäsarischen Mut muss das Kind in der Rubikon-Zeit entwickeln, sonst ist es in der Oberstufe gefährdet. Wenn die geistige Trennungsangst beginnt, muss die seelische weitgehend geheilt sein, wie auch die körperliche zum Schuleintritt geheilt sein muss, sodass man gerne von Zuhause weggeht und keine Angst mehr haben muss vor der räumlichen körperlichen Trennung.

Im Grunde muss in der Pubertät eine gewisse Gefühlsreife entwickelt werden, so wie auch der Schuleintritt eine gewisse körperliche Reife voraussetzt. Deswegen bin ich sehr froh über folgende Passage unter der Überschrift „Sittliche Erziehung, moralisches Empfinden, Gefühlsreife“1:

„Ein sittlicher Mensch ist gefühlsreif, der hat Mitgefühl. In der sittlichen Erziehung erreicht man im volksschulmäßigen Alter nur durch die Schilderung des Wesenhaften, an dem man das Sittliche anschaulich macht, das empfindende, das gefühlte Urteil. Darauf kommt es an, dass das Kind in diesem Lebensalter Sympathie für das Moralische, Antipathie für das Unmoralische in unmittelbar mitgeteilter Anschauung in sich heranentwickelt. Nicht darauf kommt es an, dass man dem Kinde eine Gebotsdirektive gibt. Die geht nicht hinein in die Seele.“

Gebote und Regeln, die nicht tief empfunden werden können, sprechen nur den Verstand an: Das und jenes darfst du nicht und das und jenes ist nicht gut! Es wird sofort zur Beurteilung anderer benützt: Du hast das und das gemacht! Dahinter steht kein Empfinden, das ist nur Schlaumeierei und Arroganz. Moralische Direktiven erzeugen Moralisten – das ist ein Weg zu Luzifer. Das Kind entwickelt darüber kein sittliches Empfinden.

Körperlich verankerter Egoismus

Vor dem Rubikon geht man noch ganz natürlich in der Umwelt auf und vergisst seinen leiblichen Egoismus – vorausgesetzt der Körper wird nicht verletzt. Wenn ein Kind in dem Ambiente und Bemühen erzogen wird – „Die Welt ist gut!“ – dann kann es sich entspannen, öffnen, hingeben, sinnesoffen sein, dann kann es ganz in der Welt sein mit seinem Bewusstsein. Der natürliche kindliche Narzissmus und Egoismus wird nicht bewusst, sondern wird vollkommen überwunden durch die Sinnesoffenheit und das Vertrauen, sich in der Welt aufgenommen zu fühlen, da sein zu dürfen, nicht verletzt zu werden.

Jede Form der Grenzverletzung begünstigt das Erleben von Egoismus, von Eigensein, von Schmerz und Ungerechtigkeit. Das Kind wird auf sich selbst zurückgeworfen und entwickelt so einen körperlich verankerten Egoismus, eine übermäßige Neigung, sich auf sich selbst zu konzentrieren.

Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013

  1. Zitat aus: Rudolf Steiner, Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik. Vortrag Pädagogik und Moral, vom 26.3.1923. GA 304a, S.44 (Ausgabe 1979).