Ursache und Herausforderung der Trennungsangst

Was ist die Ursache für Trennungsangst?

Warum kann sich kein Mensch ihr entziehen?

Vor welche Herausforderungen stellt sie uns?

Geburt als Ur-Trauma

Die Trennungsangst wurzelt in unserer Geburt: Wir werden ausgestoßen aus dem mütterlichen Schoß, in dem wir ganz und gar behütet, genährt, beschützt, gewärmt herangewachsen sind – bis plötzlich die Nabelschnur durchschnitten wird und wir von der Mutter getrennt sind. Das ist der Ursprung aller Trennungsangst auf Erden. Man hat fortan Angst, getrennt zu werden von allem, zu dem man sich zugehörig fühlt, mit dem man sich verbunden weiß, bei dem man sich geliebt und sicher fühlt. Denn man wurde schon einmal, bei der Geburt, abgeschnitten, und hat jetzt Angst davor, dass das jederzeit wieder geschehen kann. Es ist im Grunde die Angst vor einer Re-Traumatisierung – auch wenn das Ur-trauma den Säuglingen vollkommen unbewusst bleibt. Es ist eine Erfahrung, die jeder Mensch macht: mit der Abnabelung bin ich zu einem Einzelwesen geworden.

Diese Ur-Tatsache veranlagt uns Menschen aber auch dazu, früher oder später auf eigenen Füssen zu stehen, den eigenen Weg zu gehen, den eigenen Kopf zu benützen. Man kann nicht in allen Angelegenheiten andere fragen, was man machen soll. Irgendwann muss man lernen, das selber zu entscheiden. Mit dieser Individualisierung sind jedoch tausend Ängste verbunden (vgl. Identität und Ich: Die Ich-Natur des Menschen-ein zweischneidiges Schwert).

Rückfall in nationalistische Tendenzen

Der berühmte deutsche Dichter Christian Morgenstern, der mit Anfang 40 schon früh verstorben ist, schrieb: „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“.1 Das ist enorm schmerzhaft. Es wäre viel einfacher, die Wahrheit von anderen „serviert zu bekommen“, sich irgendwo anzuschließen, eine Clique oder Gruppe zu bilden, die die Wahrheit „hat“. Faschistische, nationalistische Gruppierungen sind heute wieder so attraktiv, weil dort ein extrem starkes Gemeinschaftsgefühl herrscht und Individualismus so gut wie nicht gefragt ist. So eine Gruppierung würde sofort zerfallen, wenn die dort verbundenen Menschen anfangen würden, selber zu denken. Selbst Parolen wie „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, die wirklich sozial klingen, zielen darauf ab, dass der einzelne gar nichts zählt, dass er sich nur dem Staat unterzuordnen hat, dass die Belange der Gemeinschaft vorgehen.

Dem gegenüber sagte Rudolf Steiner schon vor dem 1. Weltkrieg, das moderne Sozialwesen, das moderne Staatswesen, dürfe nicht vom Selbstbestimmungsrecht der Völker sprechen. Er sah die ganzen Migrationsbewegungen und ihre Folgen bereits voraus. In Stuttgart haben 51 % der heute dort lebenden Kinder einen Migrationshintergrund. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist vor diesem Hintergrund doch ein schlechter Witz: Denn es gibt kein Land, in dem nicht Minderheiten leben. Schon als der Amerikaner Woodrow Wilson 1917 das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamierte,3 sagte Steiner, es werde der Menschheit enorme Schmerzen bereiten, weil es einen Rückfall in die alte Gruppenseelenhaftigkeit darstelle: einen Rückfall in die vorchristliche Zeit, als man noch in Stämmen und Ethnien verbunden war und sich am Ahnherrn, am Vater, am Chef, an der Königsfigur, am Pharao innerlich angeschlossen erlebte (vgl. Mysterien und Initiation: Über die alten Mysterien). Man war familienzugehörig, sippen- und regionszugehörig, aber doch nicht individuell!

Gemeinschaften freier Geister

Die Individualität, das Individuelle, ist ein Kind der Neuzeit, ist noch ganz jung und hat seine Vordenker in den griechischen Philosophen, die nur wenige Jahrhunderte vor Christus die Menschen erstmals auf den Individualismus, auf das Selberdenken vorbereiteten. Das gab es davor gar nicht. Und dann kam es zu dem Rückfall in Form des Selbstbestimmungsrechts der Völker…

Heute geht es vielmehr um das Selbstbestimmungsrecht des Individuums (vgl. Menschheitsentwicklung: Der göttliche Weltenplan). Das macht natürlich Angst. Denn man schneidet auch die „soziale Nabelschnur“ durch, wenn man alle geltenden Werte und Glaubenssätze, alle geltenden Gewohnheiten und Regeln, mit dem individuellen Bewusstsein beleuchten muss und selbst entscheiden, was man daran gut findet. Dann hält man sich nicht mehr daran, weil es die anderen auch so machen, sondern weil man es selbst gut findet. Dann entstehen „Gemeinschaften freier Geister“, tragfähige Gemeinschaften aus Individuen, die individuelle Wärmezentren bilden und das Leben wieder neu zu einer Ganzheit zusammenschließen, das Getrennte wieder aneinanderfügen.

Vgl. Vortrag „Seelische Wärme statt Angst vor der Zukunft“, in Altenschlirf 2014

  1. Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2004.
  2. Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/14-Punkte-Programm.