Wurzeln und Überwindung der Angst vor Verletzung

Was sind die Ursachen für Angst vor Verletzung?

Warum ist es so schwer ihr zu entkommen?

Wie lässt sie sich überwinden?

Bewusstsein der Verwundbarkeit

Die Angst vor Verletzung beruht auf dem Wissen um unsere körperliche Verwundbarkeit: Wir haben eine zarte Haut, die leicht zu verletzen ist. Unfälle, Gifte, grobe oder spitze Gegenstände – wie oft verletzt man sich oder „baut“ einen Unfall. Davor haben vor allem auch ältere Menschen Angst.

Dazu kommt die seelische Verletzungsangst: Auch unsere Seele ist verwundbar, auch sie hat eine „Haut“. Wir spüren ganz genau, wenn diese verletzt wird. Das ist der Grund, warum man viele Dinge aus Angst, verletzt zu werden, unterlässt, damit man

  • nicht schief angeschaut wird;
  • das Vertrauen eines anderen nicht verliert;
  • nicht missachtet wird;
  • Anerkennung und Wertschätzung erhält
  • und vieles mehr…

Die Angst, seelisch verletzt zu werden, macht, dass wir uns anpassen. Diese Angst ist eine der schlimmsten „Mittel zur Anpassung“ in einer Gesellschaft: Wenn man bestimmte Regeln zur Norm erklärt und die kollektive Angst nur genügend schürt, dass der einzelne sich nur ja nicht aus der Spur begibt und zu individuell wird, hat man dadurch eine ganze Gesellschaft unter Kontrolle. Die wichtigsten Regeln haben mit Geld und Anerkennung zu tun. Damit kann man fast jeden korrumpieren: Nur aus Angst nicht dazuzugehören, verbiegen sich viele und spielen mit, obwohl sie dieses Verhalten und die Regeln, denen dieses „Spiel“ folgt, nicht richtig finden.

  • Der Mensch als Naturwesen

Rudolf Steiner sagt in seiner Philosophie der Freiheit1: „Die Natur, unsere Konstitution, macht aus uns ein Naturwesen“. Wir sind ja alle aus Fleisch und Blut, bestehen aus Kalzium und Phosphor, aus Natrium und Kalium – stellen geradezu einen kleinen biochemischen Kosmos dar – und dabei ist jeder ganz individuell „gebaut“. Einerseits sind wir also reine Natur und mit der ganzen Schöpfung verbunden.

Die Schöpfung bringt auch Pflanzen und Tiere hervor, die wir zu uns nehmen und verdauen können. Wir sind für sie und sie für uns gemacht. Es passt alles zusammen. Die Sonne ist gerade so weit weg, dass wir nicht verbrennen, sondern ausreichend Vitamin D bilden können über die Haut, sodass unsere Knochen stark werden. Unsere innere biologische Uhr ist synchron mit der Sonne. Wir sind ein Teil dieser natürlichen Schöpfung und sind mit ihren Gesetzen tief verbunden.

  • Der Mensch als von der Gesellschaft bestimmtes Wesen

Die Gesellschaft macht aus uns dagegen ein angepasstes Wesen. Rudolf Steiner sagt „ein gesetzmäßig handelndes Wesen“. Sie konditioniert uns, sie macht aus uns einen braven Bürger. Und die Wirtschaft legt noch einen "oben drauf" und erzieht uns von klein auf zu guten Konsumenten. Auch das hat mit Anpassung zu tun: Schon Kinder üben einen gewaltigen Druck aufeinander aus, wie man sich zu kleiden hat und was man alles haben muss – allem voran ein cooles Smartphone...

Wenn es da nicht starke Erwachsene gibt, die den Kindern vorleben, dass man angesichts all dieser Werbekampagnen auch angstfrei und individuell leben kann, lernen Kinder das auch nicht und passen sich einfach an.

  • Der Mensch als freies Wesen

Zuletzt sagt Steiner die schwer umzusetzenden Worte: „Ein freies Wesen kann der Mensch nur selbst aus sich machen.“ In dieser Hinsicht sind wir allein. Diese Fähigkeit erhalten wir weder von der Natur, noch wird sie von der Gesellschaft vermittelt. Unsere Freiheit müssen wir selber erringen. Die Gesellschaft kann das natürlich mit allen Mitteln zu verhindern versuchen: dadurch, dass sie uns so konditioniert, dass wir gar nicht mehr auf den Gedanken kommen, dass wir freie Wesen sein könnten.

Angst vor der eigenen Freiheit

Deswegen sagt Novalis sinngemäß: Es gibt überhaupt nur eine Angst - die Angst vor der Freiheit (vgl. Konfliktfähigkeit: Die Gewissensstimme). Die Angst vor uns selbst, vor unserem eigenen freien Wesen. Wir haben eine Riesenangst, uns auf diesen individuellen Weg zu begeben und beschäftigen uns lieber mit tausend anderen Sachen, als uns zu unserer Freiheit, zu unserer ganz eigenen Identität zu bekennen.

Ich kann nur empfehlen, in stillen Wintertagen den 2. Teil von „Heinrich von Ofterdingen“ zu lesen. Novalis hat ja ein Romanfragment hinterlassen, das man im Internet herunterladen kann. Dort gibt es ein Gespräch, das Heinrich von Ofterdingen mit dem Arzt Sylvester führt. Heinrich fragt ihn: „Wann wird die Zeit kommen, wo es kein Elend, keine Not, keine Schmerzen mehr auf der Erde gibt?“ Wir könnten hinzusetzen: …und keine Angst mehr. Der Arzt antwortet: „Wenn es nur eine Kraft und Macht gibt, die Macht des Gewissens.“ Denn, so sagt er, die Wurzel aller Ängste, aller Schwächen, alles Bösen, allen Übels wäre „der Mangel an Reiz der Freiheit“. Damit formuliert Novalis, was Rudolf Steiner in ähnlicher Weise in der Philosophie der Freiheit formuliert: Ein Mensch, der an seiner inneren Befreiung arbeitet, hat auch ein Interesse daran, andere frei zu lassen. Er begibt sich auf den Weg des Friedens und der Toleranz.

Vgl. Vortrag „Seelische Wärme statt Angst vor der Zukunft“, in Altenschlirf 2014

  1. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. GA 4. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.