Die Wesensglieder und ihre Diagnostik

Was versteht die Anthroposophische Medizin unter Wesensgliedern?

Wie lassen sie sich beschreiben?

Das Wissen von Körper, Leben, Seele und Geist ist so alt wie die Menschheit. Steiners Beitrag besteht jedoch darin, eine neue Zugangsweise zu diesen vier Erfahrungsfeldern aufgezeigt zu haben. Er verwendete für die von ihm in Medizin und Pädagogik eingeführte Terminologie die Worte „Leib“ bzw. „Organisation“.1 Diese Termini machen nicht nur den Zusammenhang zwischen den Reichen der Natur und den Aggregatzuständen der Materie deutlich, sondern stehen auch für die differenzierte Ganzheit des Menschenwesens nach Geist (Ich-Organisation), Seele (astralische Organisation), Leben (ätherische Organisation) und Körper (physische Organisation). Sie zeigen die komplexen Zusammenhänge von Gesetzmäßigkeiten, durch die sich der Mensch erkennen, erleben, ausdrücken und betätigen kann.

In der Anthroposophischen Medizin wird also nicht nur die naturwissenschaftliche Beschreibung von Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers berücksichtigt, sondern auch die Wirkung der sogenannten Wesensglieder auf den Körper, die von der zugehörigen Gesetzmäßigkeit bestimmt werden und so in das Körpergeschehen eingreifen können (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder).

Die Diagnostik der Wesensglieder ermöglicht ein differenziertes Erfassen des Inkarnationszustands des Menschen in Gesundheit und Krankheit, woraus sich der jeweils passende therapeutische Ansatz ableiten lässt.

1. Physischer Leib - fest

Der physische Leib wird von Stoffen und Kräften im festen Aggregatzustand aufgebaut – sie machen die sinnlich beobachtbare Beschaffenheit des Körpers im Raum aus (griechisch physis = Körperbildung, Gestalt). Der ganzheitlich-systemische Begriff des Physischen umfasst den gesamten Bereich des Mineralisch-Anorganischen: Dazu gehören die Gesetze der Gravitation, der Mechanik, aber auch die Zerfalls- und Sterbeprozesse von Strukturen (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes).

Was erkannt werden kann, wenn man dem menschlichen Organismus Stoffe, Gewebe und Partikel entnimmt und analysiert, gehört in das Gebiet des Physischen.

2. Ätherleib - flüssig

Der Ätherleib umfasst die Gesamtheit der Lebensprozesse. Diese sind an den flüssigen Aggregatzustand gebunden und liegen allen Vorgängen zugrunde, die chemische und physikalische Prozesse zu biochemischen und physiologischen Prozessen steigern (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Ätherleibes).

Das Wort „Äther“ kommt aus dem Griechischen und heißt Himmel. Damit schließt das Ätherische auch den durchsonnten, blauen Himmelsraum ein, ohne den Leben auf der Erde nicht möglich wäre. Insbesondere die Pflanzenwelt wird davon bestimmt: Das zeigt sich z.B. in der sonnenvermittelten Fotosynthese, die Grundlage der Lebenstätigkeit aller Pflanzen ist. Doch auch ihre Biorhythmen haben ihre Zeitgeber in der Solar- und Lunarperiodik.

3. Astralleib – gasförmig, luftig

Die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten, die Bewegung, Bewusstsein und seelischen Ausdruck ermöglichen, bezeichnete Steiner mit Astralleib, lateinisch „aster“ (Stern) (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Astralleibes). Das Weltall mit seinen Sternkonstellationen ist ein Bild davon: Jeder Planet, jeder Fixstern ist anders als der andere und doch stehen alle in konkreten, sich stets wandelnden Beziehungen zueinander, Konstellationen genannt.

Physiologisch gesehen sind die Bewegungs-, Sprach- und Gefühlsäußerungen an das Vorhandensein von Luft gebunden. Der Astralleib kann nur über den Gaszustand der Materie in das Körpergeschehen eingreifen und ist auch im Hinblick auf seine Wirkungsweise von den Gesetzen bestimmt, die dem Gaszustand eigen sind.

4. Ich-Organisation – Wärme

Für den Gesetzeszusammenhang, der es der selbstbewussten Persönlichkeit erlaubt, sich zu erleben und auszudrücken, wählte Steiner den Begriff Ich-Organisation. Diese ist an die Gesetze der Thermodynamik, der Wärme, gebunden (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen der Ich-Organisation). Jeder Mensch erlebt sein Ich und die Persönlichkeitsäußerungen des Anderen in Form von jeweils zum Ausdruck kommenden Wärmedifferenzen bzw. als Wärme- und Kälteausstrahlung. Die kritische Temperatur des jeweiligen Elementes entscheidet, in welchem spezifischen Aggregatzustand die Materie erscheint. Das dem gesunden Körperleben des Menschen zugrundeliegende Wärmeoptimum liegt bei 37°. Es wird durch eine komplizierte Temperaturregulation im Rahmen definierter tages- und jahresrhythmischer Schwankungen konstant gehalten. Auch hängt es jeweils vom geistigen Wärmezustand (Begeisterung) ab, ob und wofür ein Mensch seine Kraft im Leben einsetzt und wie er seine Persönlichkeit zentriert und beherrscht.

Berechtigte Annahme komplexer Ordnungsprinzipien

Mit der systemischen Begrifflichkeit der Wesensglieder ist einerseits die Brücke geschlagen zur aristotelischen Elementenlehre, die die Aggregatzustände konsequent mit den Naturreichen (Mineral, Pflanze, Tier, Mensch) verbindet. Andererseits kann dadurch auch ein konkreter Bezug hergestellt werden zur heutigen Faktenfülle naturwissenschaftlicher Forschungen als Grundlage für ein ganzheitliches Bild des Menschen, der sich in Körper, Seele und Geist gliedert (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Denken, Fühlen und Wollen und Leib, Seele und Geist).

Steiners Vorgehensweise, übergeordnete Begriffe zu bilden, wird untermauert von Annahmen aus der Systemforschung, die längst von höheren, vernetzten Formgebern und Prozessgestaltern ausgeht, die sie entweder entdeckt oder hypothetisch angenommen hat: Man verwendet den Begriff „Feld“1 oder spricht von „intraorganischen Ordnungsmustern“ aus der mathematisch-geometrischen Symmetrie und Asymmetrie, die sich nicht mithilfe der darwinistischen Paradigmen von Selektion, Mutation und Anpassung erklären lassen.2 Auch die Frage nach der Symmetrie als einem universalen Kausalprinzip gehört hierher. All diese Überlegungen und Forschungen besagen, dass es letztlich Gedanken, Gesetze, übergreifende Gesetzeszusammenhänge sind, die sich in den Ordnungen und Wandlungen der Evolution abbilden bzw. diese vorantreiben.

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die derzeit oft gebrauchten Begriffe der Autoregulation, Selbstregulation oder Selbstheilung (vgl. Krankheit: Krankheit als Erkenntnisweg der Natur). Die Wesensgliederdiagnostik kann diese Begriffe mit einem differenzierten Inhalt füllen und dieses Selbst (griechisch: autos) in seinen körperlichen, seelischen und geistigen Ausdrucks- und Funktionsweisen beschreiben.3

Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012

  1. Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. GA 37, Rudolf Steiner Verlag, Dornach.
  2. Rupert Sheldrake, The presence of the past. Morphic resonance and the habits of nature. Hammersmith, UK 1988.
  3. Antonio Lima-de-Faria, Evolution without Selection. Form and Function by Autoevolution. New York 1988.
  4. Werner Hahn/ Peter Weibel (Hrsg.), Evolutionäre Symmetrietheorie. Selbstorganisation und dynamische Systeme. Stuttgart 1996.