Eigene Erfahrungen beim Arztstudium

Ich komme ursprünglich aus der Pädagogik und habe gemerkt, wie stark mein Einfluss als Erzieher auf das Kind ist, wie stark das Vorbild wirkt (vgl. Erziehung: Erziehung und Vorbild), weil die Schüler alles sehr umweltoffen nachahmen, auch noch in der Oberstufe. Der Einfluss reicht bis ins Gesundheitliche hinein. Ich erlebte daran, welch riesige Verantwortung man hat durch die Art, wie man als Mensch auf andere wirkt. Ich habe mich zum Medizinstudium entschlossen, weil ich herausfinden wollte, wie es zu dieser Wirkung kommt. In dem Zusammenhang bewegten mich folgende Fragen:

Was wirkt auf den Menschen konstruktiv bindend?

Was unterstützt einen Menschen in seiner Entwicklung?

Was bedeutet es eigentlich zu helfen?

Womit helfe ich und was macht mich sicher, dass ich dabei nicht ein neues Problem schaffe?

Mit dieser Fragestellung, angespornt von der Begeisterung die Antworten zu finden, habe ich mein Studium begonnen. Ich war damals 25 Jahre alt, eine Spätberufene also, und hatte das Glück, die Anthroposophie parallel zum Studium studieren zu können. Ich habe sozusagen als angehende Anthroposophin Medizin studiert.

Kongruenz von Denken und Wahrnehmung

Ich fühle mich sicher und gewiss, wenn es mir gelingt, ein anatomisches Substrat, ein Ergebnis, z.B. Phasen der Embryonalentwicklung, wirklich zu verstehen: etwas denken zu können und das, was ich denke, in dem, was ich sehe, als evident wiederzuerkennen; mein Denken und meine Wahrnehmung als kongruent zu erleben; wenn das, was ich denke, auch passiert oder ich es sehe. Dazu gehört auch, das, was ich sehe, zu verstehen, dass es mir nicht ein dunkles Rätsel bleibt; ein Evidenzerlebnis zu haben. Ich hatte durch die Anthroposophie die Möglichkeit, die Medizin sensibel zu hinterfragen und mir Evidenzerlebnisse zu erarbeiten.

Vieles lernt man, ohne es zu verstehen. Man hat etwas festgestellt und soll es anschließend wissen. Bei uns stand über allen Examensfragen darüber: „Der Student soll wissen, dass…“ und dann kamen die Multiple-Choice-Angebote, aus denen man das Richtige heraussuchen musste. Es ist nervtötend, wenn nur Wissen abgefragt wird und kein Verständnis. Nur in den mündlichen Prüfungen ging es manchmal um echtes Verstehen.

Stoffwechsel und Wesensglieder

In den ersten vier Vorträgen im „Landwirtschaftlichem Kurs“ spricht Steiner über die spirituelle Bedeutung von Phosphor, Schwefel, Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff. Die ganze Eiweißchemie bzw. Biochemie unseres Körpers beruht auf diesen Elementen. So konnte ich

  • die Ich-Organisation mit dem Phosphor in Zusammenhang bringen,
  • den Astralleib mit dem Stickstoff,
  • den Sauerstoff mit dem Leben, dem Ätherischen,
  • den Schwefel zwischen dem physischen Leib und dem Ätherleib wirksam sehen – denn „er macht den physischen Leib geneigt, die Wirkungen des Ätherischen aufzunehmen“.

Es geht hier um die Erkenntnis, wie die vier Wesensglieder im Stoffwechsel aktiv sind, wobei diese vier Hauptelemente wie Tore sind.

Der Wasserstoff hat eine Sonderposition. Er gehört wesentlich zum Wärmeorganismus und ist sogar das Zentralelement des Wärmeorganismus (vgl. Wärme: Wärme als Grundlage von allem). Er ist das leichteste Element, das von sich aus zur Sonne geht, der Gravitation nicht unterliegt, weil es zu leicht ist. Wenn es nicht regnen würde, würde der Wasserstoff die Erde verlassen und sich in der Sonne sammeln. Aber durch Regen, Blitze und Donner, diese enormen energetischen Entladungen, kommt es zur Knallgasverbindung, durch die der Wasserstoff wieder an den Sauerstoff gebunden wird und wieder auf die Erde kommt.

Wissen als etwas Vorläufiges begreifen

Ich habe mir in dem Zusammenhang nie die Frage gestellt, ob etwas richtig oder falsch ist, sondern ob es mir zugänglich ist oder nicht. Wenn ich etwas verstanden hatte, war es für mich gewiss. Wenn anschließend jemand erklärte, dass dies nur ein Vorgipfel wäre und die wahre Wirklichkeit noch tiefer läge, noch etwas komplizierter sei, war ich auch dafür offen. Das vorherige Endergebnis gilt dann eben als vorläufig.

Und man muss auch nicht von Anfang an alles wissen. Ich habe manchen Patienten damit glücklich gemacht, dass ich sagte: „Wir beginnen erst einmal mit diesem Therapieansatz – ich werde mich aber noch mit Kollegen beraten, was in Ihrem Fall das Beste ist.“ Wirkliches Wissen hat Prozesscharakter und kongruiert mit der wachsenden Lebenserfahrung, die durch die Menschen, mit denen wir zusammenleben und –arbeiten, bereichert wird.

Vgl. Arbeitsgruppe zum Arztberuf und zur AM, Sommerakademie Witten 2010