Entwicklung und derzeitiger Stand der Anthroposophischen Medizin

Historische Entwicklung

Die Anthroposophische Medizin wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem österreichischen Philosophen Dr. Rudolf Steiner (1861-1925) und der Ärztin Dr. med. Ita Wegman (1876-1943) in Zusammenarbeit mit weiteren Ärzten entwickelt. Die Grundlagen dieser Medizin wurden 1920-1924 im Rahmen von Kursen vermittelt, die Steiner auf Einladung von Ärzten und Medizinstudenten hielt, die nach einem Menschenbild suchten, das sich sowohl auf die Naturwissenschaft als auch auf die anthroposophische Geisteswissenschaft beruft. Ihr Anliegen war von vornherein nicht alternativ-medizinisch, sondern integrativ, d.h. es orientierte sich an der Wirklichkeit des Menschen selbst.

Verbreitung der Anthroposophischen Medizin weltweit

Inzwischen gibt es die Anthroposophische Medizin in über 80 Ländern.

In Europa sind einige größere Akutkliniken entstanden. Hinzu kommen Sanatorien, Reha-Einrichtungen und zahlreiche Arztpraxen aus nahezu allen Fachrichtungen sowie weltweit über 400 Institutionen für Menschen mit Behinderungen. In den letzten dreißig Jahren kamen neu Einrichtungen für die Altenpflege und die Suchtbehandlung dazu.

Anthroposophische Ärzte arbeiten auch in Kooperation mit Pädagogen als Schulärzte sowie in der medizinischen Forschung und in der Arzneimittelherstellung.

Im ambulanten Bereich haben sich aus der interdisziplinären Zusammenarbeit von Ärzten, Krankenschwestern, Kunsttherapeuten, Physiotherapeuten u.a. vielerorts so genannte „Therapeutika" entwickelt, d.h. ein neuer Typ von Gemeinschaftspraxen.

Erkenntnistheoretische Wurzeln

Erkenntnistheoretisch und ethisch wurzelt die Anthroposophie in der Philosophie und Kunstauffassung des deutschen Idealismus, wie sie insbesondere von Goethe (1749-1832), Schiller (1759-1805), J. G. Fichte (1762-1814), Novalis (1772-1801) und Schelling (1775-1854) vertreten wurden. So trägt Steiners erkenntnistheoretisches Frühwerk (1884) den Titel: „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“1. Die Suche nach einer im Geist gegründeten Anschauung vom Menschen, die sich selber stützen kann im Erarbeiten einer inneren und äußeren Evidenz (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie als Geisteswissenschaft), sowie der Wille zu Entwicklung von Autonomie und Verantwortung prägen die ethische Grundhaltung anthroposophischer Ärzte und Therapeuten.

Überprüfung durch eigene Erfahrung

Die Weiterbildung zum anthroposophischen Arzt ist durch eine international vereinbarte Zertifizierung geregelt. Der anthroposophische Arzt hat die Verpflichtung, die Ergebnisse aus Steiners Geistesforschung selbständig nachzuvollziehen und anhand der eigenen Lebens- und Berufserfahrung zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Werden Mitteilungen Steiners unreflektiert übernommen, besteht die Gefahr der Ideologisierung und Dogmatisierung, was der Anthroposophischen Medizin schadet bzw. ihrer Entwicklung im Wege steht.

Haltung der Mitverantwortung fördern

Heinrich Schipperges führt in seinem Buch2 „Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte“ aus, dass die gegenwärtige Medizin nach einer Phase des unaufhörlichen Fortschritts und trotz aller großartigen Leistungen zunehmend in eine bedrohliche Krise geraten ist. Genau genommen ist diese Krise jedoch die medizinische Spielart der Menschheitskrisen von heute: ökologische Katastrophen, Armut, Hunger, Genozid, Bildungsnotstand, Energiekrise u.a. Diesen Krisen ist gemeinsam, dass ihre Ursache in einem Menschen- und Naturverständnis liegt, das keinen inneren geistigen Zusammenhang zu den Naturerscheinungen und dem Menschen herstellt. Wird dieser Zusammenhang bewusst erlebt, führt er zu einem starken Gefühl der Solidarität mit dem gesamten Evolutionszusammenhang von Erde, Natur und Mensch. Diese mitfühlende Verantwortlichkeit für alles Lebendige möchte die Anthroposophische Medizin fördern.

Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012

  1. Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, GA 2.
  2. Heinrich Schipperges, Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte, Stuttgart 1970.