Notwendiger Paradigmenwechsel in der Medizin
Warum bedarf die Schulmedizin einer Ergänzung durch eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen?
Inwiefern kann die Anthroposophische Medizin zu einem Paradigmenwechsel beitragen?
Notwendige Demokratisierung des Gesundheitswesens
Das naturwissenschaftliche medizinische System orientiert sich an der Pathologie. Aus wirtschaftlicher Perspektive folgt daraus: Je mehr Diagnostik und Therapie betrieben werden, umso so mehr Umsatz kann gemacht werden. Andres ausgedrückt: Mit der Krankheit Geld zu verdienen, fördert das Krankheitswesen. Würde man jedoch mit Prävention und Gesundheitsstrategien Umsätze machen und dafür in eine Gesundheitskasse einzahlen, würde dies entschieden zur Volksgesundheit beitragen.
Rudolf Steiners forderte bereits 1920 eine „Demokratisierung des Gesundheitswesens“ (vgl. Anthroposophische Medizin: Förderung von Patientenkompetenz).1 Ärzte, Apotheker, Hersteller und Verbraucher sind gefragt, gemeinsam und in Partnerschaft mit den Patienten bzw. Vertretern der Zivilgesellschaft Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesundheitswesens zu übernehmen und für die hierzu erforderliche Methodenvielfalt und Therapiefreiheit einzutreten.2
Auf Prävention fokussieren
Der Paradigmenwechsel könnte sich allem voran darin äußern, dass man der Gesundheitsforschung höchste Priorität gibt. Dies erfordert aber eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen, weil Gesundheit nicht auf molekularer Ebene entsteht, sondern das komplexe Ergebnis des Zusammenwirkens geistiger, seelischer, ökologischer und körperlicher Vorgänge ist. Es gehört aber auch eine „physiologische Denkweise dazu“, die dies vermitteln kann. Diese bietet die Anthroposophische Medizin. Als Kinderärztin erlebte ich in der Praxis immer wieder mit Freude, wie lebens- und entwicklungsfreundlich diese physiologische Denkweise und das integrative Menschenbild der Anthroposophischen Medizin sind. Hierzu drei Beispiele:
- Vitamin D
Als das Vitamin D entdeckt wurde, reiste der anthroposophische Kinderarzt Wilhelm zur Linden von Kongress zu Kongress und informierte seine Kollegen, dass die Dosen, die sie den Kindern verabreichten – Vigantolstöße genannt – viel zu hoch und unphysiologisch wären und den Kindern nicht nur nützen, sondern auch schaden würden. Seine Warnungen blieben über Jahre ungehört – bis Studien und Beobachtungen in der Praxis endlich zeigten, wie recht er hatte.3 Doch bis dahin hatten unzählige Kinder bereits Schaden genommen. Man hätte das durch eine gesunde Denkweise vermeiden können. Denn später machte man schließlich genau das, was zur Linden ganz zu Anfang schon empfohlen hatte: Man gab kleine, der Physiologie angenäherte Dosen, wie der Körper sie selbst bilden könnte.
- Fieberbehandlung
Ein weiteres Beispiel betrifft die Fieberbehandlung. Als ich mein Kinderärzte-Staatsexamen machte, mussten wir noch ankreuzen, dass Fieber eine Krankheit ist, die fiebersenkend, antipyretisch behandelt werden müsse, sonst wäre die Antwort falsch gewesen. Für das Facharzt-Examen besorgte ich mir dann die neueste Auflage der Kinderheilkunde von Professor Simonis. Dort las ich, nur der unerfahrene Kinderarzt würde bei jedem Fieber ein fiebersenkendes Mittel verordnen. Der erfahrene wisse, dass Fieber immunstimulierend wirkt und entscheidend zur Krankheitsbekämpfung beiträgt. Fieber sei ein natürliches Virostatikum und Antibiotikum. Bakterien und Viren sterben zwischen 39° und 40°. Man müsse das Fieber nur intelligent begleiten. Das belegen mittlerweile auch andere Studien weltweit.4
Zum Teil bis heute wurden und werden viele Kinder jedoch „falsch“ behandelt, obwohl man eigentlich weiß, dass es nicht gut ist! Und das nur, weil man im Medizinstudium nicht lernt, mit dem Organismus und im Sinne seiner Funktionen zu denken und zu fühlen und ihn in seinem Sosein optimal zu unterstützen. Selbstverständlich gibt man ein Antipyretikum, wenn man das Fieber nicht beherrschen kann. Aber das ist nur in wenigen Fällen nötig.
- Antibiotika
Noch in meiner Facharztprüfung Anfang der Achtziger musste ich die Schulmeinung wiedergeben, dass jede Mittelohrentzündung/Otitis Media breitbandantibiotisch behandelt werden müsse, jede! Mit großen Hochglanzprospekten wurden die Forschungen dazu vorgestellt. Dieselben Firmen der Pharmaindustrie hatten jedoch Mitte der Neunziger Jahre plötzlich großes Interesse daran, genau das Gegenteil zu beweisen: Damals hatte die Antibiotikaresistenz bestimmter Krankheitserreger so zugenommen, dass es für die Firmen teurer war, neue Antibiotika zu entwickeln, als die Einbußen durch Nichtbehandeln hinzunehmen. So „durfte“ man jetzt vernünftig behandeln.
Anthroposophische Ärzte haben jedenfalls – ebenso wie ihre Kollegen in Homöopathie und Komplementärmedizin – durch ihren nicht routinemäßigen, sondern individuell abgewogenen Einsatz von fiebersenkenden Mitteln und Antibiotika seit langem einen nachahmenswerten Beitrag geleistet, der heute so viel diskutierten Antibiotika-Resistenzentwicklung entgegenzuwirken.5 (vgl. Anthroposophische Medizin: Anspruch und Aufgabe).
Rudolf Steiner sagte, die Ärzte der Zukunft werden Lehrer in Gesundheitswissenschaft sein und die Lehrer der Zukunft werden Präventionsärzte für die Heranwachsenden sein.6 Das ist ein Konzept, an dem es sich zu arbeiten lohnt, für das ich mich zunehmend begeistern kann, weil es genau der Beitrag ist, den die Medizin der Gegenwart für ihren Paradigmenwechsel braucht.
Vgl. Was ist Anthroposophische Medizin?, Verlag am Goetheanum 2017
- Rudolf Steiner, Die Hygiene als soziale Frage. In: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. GA 314. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989, S. 221 - 261.
- Mehr dazu unter: www.eliant.eu
- Eine ausführliche Darstellung der Vitamin-D-Schäden findet sich bei M.S. Seelig, Vitamin D and cardiovascular, renal and brain damage in infancy and childhood. Ann. New York Acad. Sci. 1969, 147:539 - 582.
- Ilene Claudius, Larry J. Baraff, Pediatric emergencies associated with fever. Emergency Medicine Clinics of North America 28: S. 67 - 84, 2010.
- Hamre, Harald J. / Glockmann, Anja / Schwarz, Reinhard / Riley, David S. / Baars, Eric W. / Kiene, Helmut / Kienle, Gunver S.: Antibiotic Use in Children with Acute Respiratory or Ear Infections: Prospective Observational Comparison of Anthroposophic and Conventional Treatment under Routine Primary Care Conditions. Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine 2014: http://dx.doi.org/10.1155/2014/243801.
- Siehe auch: Waldorfpädagogik und Anthroposophische Medizin. Schwerpunktheft „Der Merkurstab“ 4:2012.