Warum Anthroposophie in der Medizin

Wozu braucht es Anthroposophie?

Inwiefern handelt es sich bei der Anthroposophischen Medizin um eine „Weltanschauungsmedizin“?

Was sind die grundlegenden Aspekte der Anthroposophischen Medizin?

Medizin als Ausdruck einer bestimmten Sicht auf Mensch, Natur und Umwelt

Die Anthroposophie (Anthropos = Mensch, Sophia = Weisheit, Wissenschaft) gilt bis heute als nicht leicht zugänglich. Auch wenn viele anthroposophische Initiativen auf den Gebieten der Heilpädagogik und Pädagogik, der Landwirtschaft und Medizin bekannt sind, bleibt das, was als integratives Welt- und Menschenbild der Anthroposophie „dahinter“ steht, meist vage. Man weiß nicht so recht, ob es sich dabei um eine Philosophie handelt, eine Art Religion oder um eine diffizile oder auch „eklektische“ Weltanschauung. Man fragt angesichts der Vielfalt an anthroposophischen Einrichtungen und Initiativen auch, ob der anthroposophische „Überbau“ dafür überhaupt nötig sei, ob man ähnlich Gutes nicht auch ohne diesen leisten könne.

Jedes medizinische System ist Ausdruck einer bestimmten Sicht auf Mensch, Natur und Umwelt und insofern eine „Weltanschauung“. Das gilt auch für den naturwissenschaftlichen Materialismus, für Idealismus, Realismus und andere philosophische oder geistige Orientierungen. Wer glaubt, keine Weltanschauung zu haben, hat seinen eigenen Standpunkt und, was diesen stützt, noch nicht reflektiert – was eines der Haupthindernisse ist, die „Normalität“ der Anthroposophischen Medizin anzuerkennen. Eine individuell erarbeitete Weltanschauung wie die Anthroposophie ist jedoch klar abzugrenzen von der familiären oder traditionellen Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft.

Anthroposophie als Verständnishilfe

Jedem ganzheitlichen medizinischen System – ob nun traditionell chinesische, ayurvedische oder homöopathische Medizin – liegt ein spirituelles Menschen- und Weltbild zugrunde, das die gemeinsame Evolution von Mensch, Erde und Weltall beschreibt. Neu ist bei der anthroposophischen Medizin nur, dass Steiner sich auf keine dieser alten Traditionen beruft, sondern einen Erkenntnisweg beschreibt, auf dem jeder selber die Möglichkeit entwickeln kann, sich mit seinem Wahrnehmungs- und Denkvermögen an die spirituellen Quellen anzuschließen.1 Durch eigene Beobachtung, Empathie und situationsgerechtes Denken zu den nötigen Einsichten für Diagnose und Therapie zu kommen ist das Arbeitsideal – nicht nur eine traditionelle Heilweise oder Technik zu lernen.

Ich war viele Jahre in verschiedenen asiatischen Ländern und auch weltweit mit einem Ausbildungsprogramm für Anthroposophische Medizin unterwegs. Es hat mich anfangs gewundert, dass Chinesen, Japaner, Taiwanesen, Inder, Indonesier, Philippiner sich für Anthroposophische Medizin interessieren. Als Motive nannten sie das Menschenbild der Anthroposophie, das ihnen hilft, die Brücke zu bilden zwischen dem heutigen Denken und den alten überlieferten Bildern und Werten ihrer Heilverfahren, die zwar gute Ergebnisse liefern, aber für den modernen Menschen oft nicht genau aufschlüsseln können, wie sie wirken. Die Anthroposophie half ihnen, ihre eigenen Medizinsysteme und ihre Wirkungsweisen besser zu verstehen. In Indien gab es ayurvedische Ärzte, die keine Zertifikate für Anthroposophische Medizin wollten, sondern zu uns kamen, um bessere Ayurveda-Ärzte zu werden.

Grundlegende Aspekte Anthroposophischer Medizin

Wer der Anthroposophie begegnet, trifft auf vier Aspekte, die je nachdem alle vier oder auch nur der eine oder andere das Interesse wecken und zum weiteren Studium anregen können.

  • 1. Philosophischer Aspekt

Das philosophische Fundament der Anthroposophie schließt an die Erkenntnisweise Goethes an sowie an den deutschen Idealismus mit dessen Idealen von Freiheit und Würde, Wahrheit und Liebe.2 Rudolf Steiner benannte sogar seine Anthroposophische Hochschule in Dornach nach Goethe: Goetheanum.3 Das zeugt von der großen Wertschätzung, die er diesem Genie mitteleuropäischer Geistes- und Kulturgeschichte zeitlebens entgegenbrachte.

Für manche Menschen ist Philosophie nicht wichtig, man möchte gute Ideen für seine Arbeit und sein Leben haben und keine Zeit mit intellektuellen Grübeleien verlieren. Es gibt aber auch Menschen, die nur deshalb Anthroposophen werden, weil sie hier eine Erkenntnistheorie und deren philosophische Begründung finden, durch die sie sich selbst und ihren Zusammenhang mit der Welt besser verstehen.

Philosophie ist die Kunst des eigenständigen Denkens. Steiner formuliert diese „erkenntnis-künstlerische“ Herausforderung in seinem philosophischen Hauptwerk, „Die Philosophie der Freiheit“, so: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“4 Das heißt, wer Gedanken und Ideen anderer übernimmt und nicht eigenständig bedenkt und bewertet, gerät in Abhängigkeit der Autoritäten, von denen diese Gedanken stammen. Mit Hilfe dieses Ansatzes, selbst hinzuschauen, zu fragen, zu bedenken, zu verstehen, ist jeder Student der Anthroposophie angeregt, seine eigene Philosophie zu reflektieren.

  • 2. Aspekt der Selbstschulung

Anthroposophie beinhaltet einen Weg der Selbstschulung, welcher zu seelischer Weiterentwicklung, Selbsterkenntnis und Willensstärkung führt.5 Es gibt heute viele Menschen, die auf der Suche nach einem interreligiösen Weg spiritueller Selbsterfahrung sind(vgl. COVID-19: Spirituelle Kraftquellen erschließen). Sie wollen sich nicht einer bestimmten Glaubensgemeinschaft oder einer bestimmten spirituellen Gruppierung anschließen. Sie suchen einen allgemein-menschlichen Weg für ihre innere Entwicklung. Einige davon finden diese Möglichkeit in der Anthroposophie und ihren Organisationen.

Da die Anthroposophische Gesellschaft international organisiert und offen für alle wissenschaftlichen, religiösen und künstlerischen Überzeugungen ist, findet man Vertreter der verschiedensten spirituellen Orientierungen. Angehörige der christlichen Konfessionen, des Buddhismus, Daoismus, Shintoismus, der Hindi-Religion, der Zarathustra-Spiritualität, des Judentums sowie einzelne Vertreter des Islam und viele ohne eine bestimmte spirituelle Ausrichtung können hier mehr über ihre eigene spirituelle Identität lernen, indem sie zusätzlich den Weg der Selbstschulung der Anthroposophie gehen. Was sie in dieser Gesellschaft verbindet, ist der Entwicklungsgedanke in der Anthroposophie sowie das Bestreben, das gesellschaftliche Leben menschlicher und zukunftsfähiger zu machen.

Der Biologe Bernd Rosslenbroich wies in einer naturwissenschaftlichen Studie das Autonomieprinzip als Grundlage der gesamten Evolution nach, deren Gipfel die menschliche Entwicklung sei.6 Dieses Autonomieprinzip liegt auch der anthroposophischen Selbstschulung zugrunde. Autonomie konstruktiv leben zu lernen ist nicht leicht. Scheitern und immer wieder neu Ansetzen gehören ebenso dazu wie die stille innere Ausrichtung des eigenen Lebens und Arbeitens an den Idealen von Freiheit und Würde, Ehrlichkeit und Liebe.

  • 3. Aspekt der Geisteswissenschaft

Wo aber ist der „Geist“ als Fundament dieser anthroposophisch-geisteswissenschaftlichen Weltsicht zu finden?

Selbständiges Denken als Ausdruck von Geist

Die Antwort ist schlicht: das menschliche Denken. Normalerweise kennt jeder den Zustand des Gedanken-Habens, Wissens, Sich-Informierens oder sich in anerkannten bzw. vorgegebenen Denkmustern zu bewegen und diese wiedergeben zu können. Wer jedoch von der eigenen Denktätigkeit ausgeht, entdeckt auch denjenigen, der denkt, in seinem Denken.

Der idealistische Philosoph Johann Gottlieb Fichte7 wies seine Studenten auf die zentral wichtige spirituelle Selbsterfahrung im Denken hin. Er führte mit ihnen die folgende Übung durch: Er fragte sie, ob sie die Wand des Hörsaals sähen. Dann sagte er: „Schließen Sie die Augen und denken Sie die Wand.“ Und dann kam die alles entscheidende Aufforderung: „Und jetzt denken Sie den, der die Wand gedacht hat...“8

Wer das durchführt, kann in seinem Denken das eigene Selbst als reinen Tätigkeitsquell, als innere Aktivitätsbereitschaft, als Ich, als eigenständiges Wollen bemerken als rein energetische spirituelle Selbsterfahrung im Denken. Damit hat er einen sicheren Ausgangspunkt gewonnen, sich seine eigene Weltsicht zu erarbeiten. Er steht jetzt geistig auf eigenen Füßen und ist in der Lage, sein Denken immer perspektivenreicher auszubilden. Je mehr er versteht, desto mehr sieht er von der Welt. Und je mehr ihn die Welt interessiert und zum Nachdenken anregt, desto differenzierter und klarer wird sein Denken (vgl. Denken: Die vier Qualitäten von Denken und Leben). Sich selbst und die Welt zu verstehen und dadurch zu einer authentischen Selbst- und Weltsicht zu kommen, ist die Weltanschauung der Anthroposophie. Seinen Zeitgenossen zu zeigen, dass sie „durch das Denken zur Wirklichkeit des Geistes kommen“ können, war ein zentrales Anliegen Rudolf Steiners. Das eigene Ich als geistig reales Wesen im Denken erleben zu können, erschließt zugleich die spirituelle Dimension des Begriffs der menschlichen Würde als autonome und geistbewusste Kompetenz (vgl. Soziales Leben und soziale Dreigliederung: Ursprung, Verlust und Wiedererlangen von Würde).

Rudolf Steiner formulierte diesen Tatbestand gegen Ende seines Lebens noch einmal so: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte“ (vgl. Anthroposophie: Leitmotive der Anthroposophie).9 Grundlage dafür ist die Gedankenarbeit eines jeden einzelnen Menschen. Hannah Arendt nannte diese Selbsterfahrung im Titel ihres gleichnamigen Buches „Denken ohne Geländer“.

  • 4. Aspekt der Zusammenarbeit

Da Anthroposophie auf das sich zur Autonomie entwickelnde Individuum baut, findet man gerade unter Anthroposophen einen ausgeprägten Meinungs- und Standpunktepluralismus bis hin zur gern zitierten „Streitkultur“. Auch ist die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft von eindrücklichen Krisen und Konflikten geprägt, die von dem Ringen um individuelle und soziale Kompetenz zeugen, einem Bemühen, das alles andere als einfach ist. Umso erfreulicher ist es, dass sich diese Gesellschaft bis heute nicht in verschiedene Gruppierungen gespalten hat, sondern der Wille zum gegenseitigen Verstehen und zur Entwicklung von Toleranz gegenüber anders Denkenden stets überwogen hat.

Von dem Dichter und Anthroposophen Christian Morgenstern (1871 - 1914) stammt ein Gedicht, das dieses Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Individualisierung einerseits und der Befähigung zur Gemeinschaftsbildung andererseits meisterlich zum Ausdruck bringt:

Die zur Wahrheit wandern, wandern allein,
keiner kann dem andern Wegbruder sein.
Eine Spanne gehn wir, scheint es, im Chor ...
bis zuletzt sich, sehn wir, jeder verlor.
Selbst der Liebste ringet irgendwo fern;
doch wer's ganz vollbringet, siegt sich zum Stern,
schafft, sein selbst Durchchrister, Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister Ewiger Bund.10

Hier wird in künstlerischer Form zum Ausdruck gebracht, dass größtmöglicher Individualismus und „Gemeinschaft im Geist“ sich nicht widersprechen müssen. Vielmehr erscheinen die Ideale der Französischen Revolution – der Freiheit des Individuums, der Gleichheit und der brüderlichen Solidarität – so erst in ihrem wahren Licht: Denn wenn man weiß, dass jeder „auf dem Weg ist“, wächst der Respekt vor der Einmaligkeit und Würde des anderen. Und gleichzeitig erlebt man, wie uns dieser Tatbestand des Werdens „gleich“ macht. Da wir aber sowohl „gleich“ als auch „individuell sehr verschieden“ sind, sind wir Menschen immer wieder auf gegenseitige brüderliche Hilfe angewiesen. Wir gewähren sie, wenn wir die Bedürfnisse des anderen sehen, respektieren und, wo möglich, erfüllen.

Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012

  1. M. Girke , PF Matthiessen (Hrsg.), Medizin und Menschenbild, Bad Homburg 2015.
  2. Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. GA 2. Dornach 2003.
  3. www.goetheanum.org
  4. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.
  5. Dargelegt in Steiners Selbstschulungsbuch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
  6. Bernd Rosslenbroich, On the Origin of Autonomy. A New Look at the Major Transitions in Evolution, Hei-delberg, New York, Springer 2014.
  7. Johann Gottlieb Fichte, Philosoph (1762 - 1814).
  8. Überliefert von Steffens, einem Naturforscher und Zeitgenossen Fichtes.
  9. Rudolf Steiner, Anthroposophischer Leitsatz 1, 17. Februar 1924. In: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, S. 6 (1989).
  10. Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad, Basel, Zbinden Verlag. 5. Aufl. 2004.