Beitrag zur Humanisierung der Menschheit

Im Jahr 2006 wurde die UN-Charta über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet und es war die große Hoffnung damit verknüpft, dass diese Charta nach dem totalen Untergang der Humanität im 20. Jahrhundert das 21. Jahrhundert zum Millenium der Humanität machen würde. Die beste Formulierung aus dieser Charta lautet:

„In Anerkennung des wertvollen Beitrags, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können, und in der Erkenntnis, dass die Förderung des vollen Genusses der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen sowie ihrer uneingeschränkten Teilhabe ihr Zugehörigkeitsgefühl verstärken und zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen wird. Die sogenannten Menschen mit Förderbedarf oder Behinderung leisten einen bedeutenden Beitrag zur Humanisierung der Menschheit.“1

Erfahrungsbericht eines Terroristen

In einem Artikel, der im Frühjahr 2014 in der Basler Zeitung erschienen ist, berichtet ein Deutscher, wie er sich zum Terroristen in Pakistan und Afghanistan ausbilden ließ und nach fünf Jahren permanentem Beteiligt-Sein an Tod und Terror ausgestiegen ist und sich jetzt, hoch sicherheitsbewacht, in einem Schutzprogramm befinde.

Als Grund für seinen Einstieg in die Szene nannte er die Tatsache, dass seine Jugendjahre geprägt waren von Öde, Langeweile, Desinteresse, Überdruss und innerer Leere. Als 14jähriger sah er im Fernsehen am 11. September 2001 die Türme des World Trade Center fallen und hatte das Gefühl: „Endlich ist mal etwas los! Wie die das hingekriegt haben, das müssen mutige Super-Typen sein!“ Er fühlte zum ersten Mal ein bisschen Energie in seiner öden Seele aufsteigen und entschloss sich, sobald er alt genug wäre, sich einer terroristischen Bewegung anzuschließen. Und genau das tat er wenige Jahre später.

Der Grund, warum er nach fünf Jahren wieder ausstieg, war, dass er „die Bestie entdeckt“ hatte, die aus dem Menschen herausbrechen und den Menschen zu einem hemmungslosen Tier („Hunde des Krieges, sich wahllos auswütend, verrohend“) werden lassen konnte.

Moral ist Interesse am anderen

Warum berichte ich das?

Die Menschenrechts-Konvention fordert uns auf, jeden Menschen ernst zu nehmen. Kein Mensch, egal wie intelligent, wie gesund, wie krank, ob von Behinderung betroffen oder nicht, würde von Öde, Langeweile, Desinteresse, von innerer Leere und Tod sprechen, wenn er das echte Interesse eines anderen Menschen tief erleben könnte. Das heißt, der in einer Gesellschaft anwesende Grad an Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit ist direkt proportional zur real erlebbaren Liebe. Geistige Liebe äußert sich nach Rudolf Steiner im Interesse füreinander.

Laut Steiners Moralbegriff äußert sich auch Moral als echtes Interesse am anderen. Wenn dieses Interesse zwischen Menschen fehlt, kann sich keiner dem anderen so zeigen, wie er seinem Wesen nach ist, und kann so auch zu keinem tiefen Selbsterleben kommen. Unsere Seele ist ein Resonanzboden und so wie man diesen Resonanzboden in Schwingung bringt, entsteht Selbsterlebnis, Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Einsicht darüber, wer man ist und was man möchte. Nur in echtem Kontakt mit sich selbst fühlt man sich innerlich erfüllt und belebt. Dann ist man interessiert an der Welt und anderen, dann hat man Lust sich für etwas Gutes zu engagieren.

Bedeutung von Heilpädagogik und Sozialtherapie

Heilpädagogik und Sozialtherapie sind laut Rudolf Steiner die wichtigsten Zweige der Anthroposophischen Medizin. Anthroposophische Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sind aufgrund der Erfahrungen, die dort gemacht werden können, Kompetenzzentren in Entwicklungsfragen. Sie sind Experten in Bezug auf die Themen „Vorbeugung“ und „Heilung“, sie sammeln Erfahrungen für eine Zukunft, in der dieses erfahrungsbasierte Wissen dringend nötig sein wird.

Zu Anfang zitierte ich aus der UNO-Deklaration der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen. Im Zuge der Humanisierung unserer Gesellschaft werden für Menschen mit Behinderungen dieselben Rechte gefordert wie für alle anderen. Heilpädagogische Einrichtungen sind demnach Humanisierungszentren – unter einer Voraussetzung: dass alle Betreuer ihre Bewusstseinskompetenz schulen, indem sie

  • unermüdlich ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit schulen
  • und das Wahrgenommene reflektieren (= Denkschulung).

Zwei Wege der Annäherung an den anderen

Durch unsere Wahrnehmung sehen wir die Welt von außen, im Denken erfassen wir die Welt von innen – beide Ansätze lassen uns Grenzerfahrungen machen, durch beide entsteht Bewusstsein:

  • Im Verstehen fügen wir Gedachtes zusammen – es ist zur Erkenntnis geworden.
  • Die vertiefte Wahrnehmung führt zu einem Erlebnis (was noch keine Erkenntnis nach sich ziehen muss).

Die Philosophen sagen: „Die Anschauung ohne Begriff ist leer“. Deshalb ist es unerlässlich, sich der Welt und den Menschen (auch sich selbst) über beide Wege anzunähern. Wir sollten die geistige Welt genauso erkennen und erleben lernen wie die sinnliche Welt. Wenn wir uns nur mit einem Extrem befassen, wird unser Leben einseitig. Die meditative Vertiefung des Erkannten, bis wir es in unserer Seele fühlen können, ist genauso wichtig wie die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit der Sinneswelt. Diese Fähigkeiten sollten ineinandergreifen. Informationen aufzunehmen, wie es heute üblich ist, ist nicht gleichzusetzen mit Selber-Denken. Erst der gefühlte Gedanke gehört mir.

Die Integration von neuen Erlebnissen gelingt erst, wenn ich das fremde Elemente in mir selbst finde und es als mein eigenes empfinde. Steiner sagt, wir sollten Toleranz in der Form leben, dass wir uns so offen und umfassend mit einer anderen Religion befassen, bis wir uns am Ende fragen, warum sie nicht die unsere ist. Das kann auf alles Andersartige und „Fremde“ angewandt werden.

In jedem Menschen, der die Vielfalt dieser Welt – und dazu gehört auch der so ganz andere Mensch – in sich erkennt, kommen Punkt und Umkreis zusammen, werden Innen und Außen eins. Das ist der Weg der Humanisierung, so werden wir immer mehr zum Menschen, wird die Welt immer menschlicher.

Vgl. Vortrag „Das anthroposophische Menschenbild“, 2014

  1. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.): Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006. Präambel, Absatz m)