Zum Verständnis von Krankheit und Behinderung

Schicksalsfragen wie die nach dem Wesen körperlicher, seelischer und/oder geistiger Behinderungen können uns bewusst machen, dass wir Menschen eine Art Doppelleben führen. Wir haben eine leibliche Existenz und stehen in einem sozialen Umkreis, während wir auf der anderen Seite ein bewusstes Innenleben führen, das sich vom sozialen Umfeld und bis zu einem gewissen Grad auch von der eigenen körperlichen Befindlichkeit abgrenzen kann. Dass dies wirklich ein Doppelleben ist, kommt uns meist erst durch Krankheit oder einen Unterstützungsbedarf zu Bewusstsein.

Es gibt zwei extreme Ausprägungen und alle Abstufungen dazwischen:

  • Es gibt zum einen seelisch-geistig außerordentlich aktive und schöpferische Menschen, die in einem siechen, kranken Leib ständiger Pflege bedürfen, vielleicht sogar bettlägerig sind.

  • Das andere Extrem ist die Situation, dass jemand körperlich recht gut beisammen, aber seelisch und geistig von schweren Behinderungen betroffen ist.

Das sind Rätsel unseres Daseins. Eine Betrachtung darüber, wie Seele und Geist mit dem Leib in Gesundheit und Krankheit verbunden sind, kann gerade heute hilfreich sein, da die Tendenz zunimmt, Leid und Schmerz abzulehnen und zu vermeiden, sie als unmenschlich zu empfinden.

Notwendige Frage nach dem Sinn

In einer Zeit, in der wir kranke und leidende Menschen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld lösen und in Krankenhäusern und Altersheimen isolieren, in der wir außerdem durch vorgeburtliche Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch im Krankheitsfall versuchen, das Auftreten schwerer körperlicher oder geistiger Behinderungen von vornherein auszuschließen, muss auch die grundsätzliche Frage erlaubt sein, ob Leiden sinnlose Zumutungen eines grausamen Zufalls sind bzw. welche Möglichkeiten es gibt, Leid und das Zustandekommen von Krankheit und Behinderung besser zu verstehen und – wo möglich – auch Sinn stiftend in die menschliche Biographie zu integrieren. (vgl. Krankheit: Krankheit, Heilung und die Frage nach dem Sinn)

Ein Mensch, der von Geburt an einer geistigen Behinderung leidet, macht ganz andere Erfahrungen in seinem Leben als ein Mensch mit einer physischen Behinderung, dem beispielsweise ein Arm oder ein Bein fehlt. Einem Menschen mit hochgradiger seelisch-geistiger Behinderung ist es viele Jahre, oder vielleicht sogar sein ganzes Leben lang, nicht möglich, das eigene Seelenleben selbstbewusst zu lenken und zu äußern. Er lebt sein Erdenleben ganz im Zeichen der sozialen Integration, eingebettet in eine ihn um-sorgende Menschengruppe. Zunächst wächst er in seiner Familie heran, dann kommt er vielleicht in eine Schul- und später in eine entsprechende Lebensgemeinschaft, eine beschützende Werkstatt oder eine sozialtherapeutische Einrichtung. Er führt im Grunde ein Leben in Hingabe an die Umgebung, ohne in der Lage zu sein, persönliche Intentionen zu verfolgen. Es ist in gewissem Sinne ein Leben in Selbstlosigkeit. Denn die Möglichkeit, ein Doppelleben zu führen, indem man auf der einen Seite, die eignen Interessen verfolgt und andererseits auch dem sozialen Umfeld gerecht zu werden sucht, ist in einem solchen Fall nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich.

Aufschlussreicher Blick auf die Gesamtentwicklung

In Verbindung mit dem Wiederverkörperungsgedanken zeigt sich jedoch ein solches Schicksal in einem anderen Licht – als Ausschnitt einer Gesamtentwicklung, die mehrere Erdenleben umfasst.

  • Auf der einen Seite lässt sich denken, dass ein Leben in Selbstlosigkeit eine große Kraftquelle für ein künftiges, Leben ist, in dem vielleicht Aufgaben warten, die eine hohe soziale Kompetenz erfordern.

  • Auf der anderen Seite lässt sich dieses Schicksal aber auch denken als Folge eines möglicherweise verzweifelten früheren Lebens, bei dem der Betreffende wissend oder unbewusst große Schuld auf sich geladen hat und jetzt in einem neuen Erdenleben gleichsam vor den Folgen der eigenen Taten zurückschreckt, weil er sich nicht in der Lage fühlt, die Verantwortung dafür zu tragen zu. In diesem Falle wird ihm durch ein Leben in Vertrauen und Hingabe an die Umgebung die Möglichkeit gegeben, sich selbst als wertvoll zu erleben durch die Liebe und Förderung seitens der Menschen im Umkreis. So können Mut und Selbstvertrauen wieder wachsen.

Alle Ereignisse vergangener Erdenleben, alle furchtbaren Tragödien, die sich beispielsweise im Rahmen totalitärer Regimes abgespielt haben, sind mit dem Tode der betroffenen Menschen ja nicht ausgelöscht. Sie wirken weiter und drängen zu gegebener Zeit für den weiteren Verlauf des Schicksals wieder ins bewusste Leben zurück (vgl. Schicksal und Karma: Konsequenzen von Handlungen und Lebensgewohnheiten für den weiteren Verlauf des Schicksals) . Man stelle sich nur einmal vor, seinem Peiniger aus einem früheren Erdenleben Aug in Auge gegenüber zu treten. Auch durch derart furchtbare Geschehnisse entstehen ja menschliche Beziehungen, die eine Fortsetzung haben.

Viele abgrundtiefe Antipathien und Hassausbrüche unter Menschen werden so verständlich, die aus einer Beurteilung der Tagesverhältnisse und Lebensumstände völlig unerklärlich sind. Infolge von Irrtums- und Verirrungsmöglichkeiten können so furchtbare und grausame Taten unter Menschen geschehen, dass eine dadurch in die Sackgasse geratene Entwicklung zunächst den Anschein hat, nicht fortgesetzt werden zu können. Der Maßstab des Menschlichen ist verlorengegangen.

Weisheitsvolle Fügung des Schicksals erkennen

In einer solchen Lage ist eine Inkarnation, die ganz dem Schaffen neuer Lebensvoraussetzungen gewidmet ist, eine weisheitsvolle Fügung des Schicksals. Die Motivation zur Menschwerdung kann neu geweckt werden.

Dies gilt auch für Menschen, die am Sinn der menschlichen Existenz verzweifelt sind und sich das Leben genommen haben.

Wie sollen sie wieder neuen Lebensmut finden?

Die Nahtod-Erfahrung vieler Menschen zeigt, dass nach dem Tod ein anderes, körperloses und dennoch bewusstes Leben weitergeht. Es ist fast immer ein schmerzliches Erleben, nach einer Selbsttötung festgestellt zu haben, dass man sich bestimmter Entwicklungsmöglichkeiten beraubt hat.

Wer Gedanken dieser Art zu bewegen beginnt, wird sicher auch die Gefahr bemerken, die damit verbunden ist, wenn eine derartige Betrachtung, anstatt Hilfestellung zu geben für die Bewältigung tragischer Schicksalskonflikte, anregt zu sensationellen Spekulationen bezüglich früherer Erdenleben und ihrer Folgen. Leider gibt es weder Gedanken noch Tatsachen in der Welt, die nicht auch missverstanden oder missbraucht werden können. Die Möglichkeit von Missbrauch sollte uns jedoch nicht davon abhalten, hilfreiche Gesichtspunkte dieser Art zu bewegen und mit anderen Menschen zu teilen.

Veranlagung zukünftiger Qualitäten und Fähigkeiten

Als Rudolf Steiner nach dem Sinn schwerer Behinderungen gefragt wurde, bemerkte er unter anderem, dass es keinen wirklich großen genialen Menschen gäbe und gegeben hätte, keinen der ganz großen Wohltäter der Menschheit, der nicht wenigstens einmal ein solches Schicksal durchgemacht hätte. Mir ist diese Aussage erstmals verständlich geworden, als ich in einer Bauernfamilie auf dem Dorf erlebte, wie ein Dorfbewohner mit geistiger Behinderung dort zu Besuch war – ein gutmütiger Mensch, der überall gern gesehen und sozial integriert war. Er war in jene Familie zum Holzhacken gekommen und saß anschließend mit beim Abendbrot. Von morgens bis abends verrichtete er in verschiedenen Familien des Dorfes aus freien Stücken einfache Tätigkeiten. Er war überall gerne gesehen und wurde von allen mitversorgt.

Welche Eigenschaften werden während eines Erdenlebens mit einer geistig-seelischen Behinderung veranlagt und geschult?

In erster Linie ganz sicherlich der Wille, denn dieser wird nur an der Tätigkeit erzogen (vgl. Wille(nsschulung): Motivation und Willenserziehung). Ein regelmäßig und freudig tätiger Mensch, dem jedes Nörgeln und Miesmachen fremd ist, veranlagt in sich eine Willensstärke, die einem sogenannten Gesunden in einem Erdenleben zu erlangen gar nicht möglich ist. Unzufriedenheit sowie lähmende Gefühle und Gedanken behindern heutzutage sehr oft die Willensentfaltung.

Was auf den ersten Blick als schwere Lebenstragödie erscheint, kann von einem anderen Gesichtspunkt aus als eine sinnvolle Schicksalsfügung erkannt werden (vgl. Schicksal und Karma: Ich-Erleben und Schicksalsgestaltung). Diese oder jene Perspektive einzunehmen, steht jedem frei, der mit dem Leben eines Menschen mit Behinderung in Berührung kommt.

Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Stuttgart 1993