Biografische Gesetzmäßigkeiten1
Welchen biografischen Gesetzmäßigkeiten folgt das Erwachen von Selbstbewusstsein?
Erwachen von Selbstbewusstsein im Denken, Fühlen und Wollen
- Im 3. Lebensjahr – Erwachen auf Gedankenebene: Ich bin ich
Ein erster Funke von Selbstbewusstsein, das ich „provisorisches Selbstbewusstsein“ nennen möchte, erwacht rein auf Gedankenebene im dritten Lebensjahr. Da denkt das Kind zum ersten Mal: Ich bin ich. Diesen Gedanken, diese Logik machen wir uns alle selbst klar, die Umwelt kann helfen, kann fragen, aber wirklich zu verstehen bedeutet immer, es selber zu machen. Das macht das Kind im dritten Lebensjahr ganz aus sich selbst heraus. Alles, was das Kind vorher erlebt hat, hat es vergessen, das ist die Amnesie vor dem ersten Ich-sagen. Unser bewusstes Gedankenleben reicht nur bis zu unserer ersten Erinnerung. Aber ab da halten wir den Identitätsfaden im Denken, der „Ich-bin-Ich-Gedanke“ ist ab dann immer dabei. Das ist die Steuerungszentrale.
- Im 9. Lebensjahr – Erwachen auf Gefühlsebene: Ich fühle mich
Das gleiche Bedeutungsvolle passiert im 9. Lebensjahr mit dem Fühlen. Jetzt erwacht das Weltgefühl, die Kinder erfühlen den Gedanken ihres Ich. Dieses „Ich bin Ich“ zu fühlen, bedeutet Einsamkeit, Einmaligkeit. Fast jedes Kind stellt die Frage:
Bin ich wirklich das Kind meiner Eltern oder bin ich vielleicht adoptiert?
Denn sie fühlen sich missverstanden, alleine gelassen, ausgegrenzt. Deshalb ragen Drogensucht, Internetsucht, aggressives Verhalten, Depression in dieses 9. Lebensjahr herunter.
- Im 16. Lebensjahr – Erwachen im Willen: Ich will mich
Im 16. Lebensjahr gibt es im Selbstbewusstsein noch mal eine Revolution, weil jetzt der Wille dazu kommt. Manche Jugendliche erleben es wie einen Schock: „Ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Bis jetzt konnte man die Verantwortung noch delegieren, auf das Umfeld, die „blöde Familie“. In der Pubertät lehnt man die Verantwortung meist ab, aber jetzt ist man ein junger Erwachsener. Man erlebt den eigenen Willen als Teil der eigenen Identität. „Ich denke mich nicht nur, ich fühle mich nicht nur, sondern ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Dann erwacht der Idealismus:
Wofür will ich verantwortlich sein, für welche Werte will ich mich einsetzen?
Man sucht Vorbilder, überlegt, welchen Beruf man ergreifen möchte etc. Diese drei Ich-Erfahrungen sind dennoch alle vorläufig.
- Vom 22. bis 24. Lebensjahr – Suchen eines festen Bezugspunktes
Normalerweise beginnt es erst im 22. bis 24. Lebensjahr, dass der junge Mensch auf neue Art fragt: Wer bin ich?
Jetzt ist es die Frage nach dem ewigen Ich, die man so klar stellt, dass man sie bewusst fassen und verfolgen kann. Später ist es so, dass man angeregt durch Lebenskrisen, Begegnungen, auch durch spirituelle Krisen diese Frage immer wieder stellt. Bei der zweiten Geburt bestimme ich selbst im Denken, welchem Wertekontext ich mich mit meinem Ich widmen möchte. Um ein Beispiel zu nennen:
Welche Art Mensch möchte ich werden?
Was ist eigentlich menschlich?
Es gibt dabei drei grundsätzliche Ideale: Wichtig unter Menschen ist, dass es ehrlich zugeht, dass man sich darauf verlassen kann, dass der andere einen nicht anlügt. Das ist das Ideal der Wahrheit. Das zweite Ideal ist die Liebe, dass man auch die Schönheit dieser Beziehung fühlt. Und das dritte ist die Freiheit, dass jeder sich frei entscheiden kann, wie er/sie leben will; dazu gehört auch, den anderen frei zu lassen.
Geisteswachheit durch Ideale
Diese drei Kernideale kann man anstreben, und dann ist die weitere Biografie der Ort, wo sich diese Ideale realisieren (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit). Jeder Tag ist eine neue Aufforderung, ehrlich, liebevoll, freilassend und selbstbestimmt zu sein. Jeden Abend kann man eine kleine Revue machen:
Wie war das heute?
Habe ich doch wieder eine kleine Verlegenheitslüge gebraucht oder geschwiegen, wo ich hätte was sagen sollen?
Man hat somit einen festen Bezugspunkt gefunden, nämlich selbstgewählte Ideale, welche man dann in allen Lebenslagen evaluiert. Die Konzeption dieser zweiten Geburt ist das Fassen der Idee und die Realisierung ist quasi die Embryonalentwicklung. Bis zum Tod kann man das dann täglich üben, um dieses „Kind“ der Geisteswachheit beim Sterben mit über die Schwelle zu nehmen und diese auch „drüben“ bewahren zu können. Das bedeutet, dass man sich in der nachtodlichen Welt bewusst und wach halten kann (vgl. Nachtodliches und vorgeburtliches Leben: Nachtodliche Begleitung durch die dritte Hierarchie) .
Physische und ätherische Biografie
Insofern kann man unter diesem Aspekt der ersten und zweiten Geburt die menschliche Biografie als Ganzes wie zweifach betrachten:
Einmal die physische Biografie – der Körper baut sich auf, hat seine beste Zeit, gefolgt von einer Phase der Involution und zuletzt stirbt er.
Der ätherische Aspekt der Biografie ist, dass man heranwächst, sich entwickelt, und ab einem bestimmten Zeitpunkt geistig die weitere Entwicklung in die eigenen Hände nimmt, die eigene Identität bestimmt und diese durch den Tod trägt.
Das bildet die individuelle Voraussetzung für das nachtodliche Leben und die Vorbereitung der nächsten Inkarnation auf der Erde. Denn wenn man einmal wirklich begriffen hat, wie defizitär der Mensch wirklich ist und wie wenig wir in einem Erdenleben Mensch werden können, kann man nicht daran zweifeln, dass die Wiederverkörperung eine Notwendigkeit ist (vgl. Entwicklung: Entwicklungsgedanke und Wiederverkörperung). Es braucht individuell unterschiedlich Zeit, bis sich der Mensch selbst zum Menschen macht. Das ist auf große Zeiträume angelegt.
Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. und 14. März 2020
- Vorliegender Text ist der 3. Teil einer Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März 2020, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß «Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis».