Biografische Entwicklung in Jahrsiebten1

Wie sieht die Entwicklung des Menschen in Jahrsiebten aus?

Wie können wir in jedem Lebensalter mit seinen Gesetzmäßigkeiten neue Aspekte unserer Identität erüben und erfahren?

A Körperlich-seelische Reifungsschritte

Die menschliche Entwicklung hat Gesetze, die die körperliche, seelische und geistige Reifung bestimmen. Dabei kommt der Entwicklung des menschlichen Willensvermögens für die Bewältigung der Biografie eine besondere Bedeutung zu.

  • 0 bis 7 Jahre – sensomotorische Entwicklung

Wenn wir bei der Geburt beginnen, sind die ersten sieben Lebensjahre stark geprägt durch die Nachahmung. Die Kinder sind von sich aus aktiv. Dieser Wille folgt den Sinnen: Was die Kinder sehen, das ahmen sie nach. Deshalb wird diese Phase „sensomotorische Entwicklung“ genannt.

  • 7 bis 14 Jahre – Entwicklung des Gefühlslebens

Ganz anders ist es zwischen 7 und 14 Jahren, wenn es auf die Pubertät zugeht. Da folgt der Wille nicht mehr den Sinnen, sondern wird abhängig von dem in Entwicklung begriffenem Gefühlsleben. Man macht, wozu man Lust hat und wofür man sich begeistert. Wohl dem, der aus Freude und Liebe zu einem Erwachsenen, dem Lehrer oder der Lehrerin, lernt und sich anstrengt. Die Liebe ist das einzige Gefühl, das freilässt. Angst und Pflicht dagegen binden und zwingen.

  • 14 bis 21 Jahre – Entwicklung von Eigenverantwortung

Zwischen 14 und 21 Jahren folgt der Wille der Einsicht und den eigenen Gedanken. Jetzt machen die Jugendlichen die Dinge, die sie selber gut finden, die sie einsehen, und man muss ihnen als Erwachsener alles sehr gut erklären. Wirklich einsichtsfähig ist man erst ab 16 Jahren. Dann erst greift die Selbststeuerung, vorher ist man sensorisch- und gefühlsgesteuert. Auch in diesem Alter reift der Körper noch heran, bis er schließlich zwischen 18 und 21 Jahren ausgewachsen ist.

B Seelische Reifungsschritte

Jetzt kommen nicht mehr die Gesetze der körperlichen Reifung, sondern der seelisch-geistigen Reifung zum Tragen.

  • 21 bis 28 Jahre – Entwicklung der Empfindungsseele

In dem Jahrsiebt zwischen 21 und 28 fühlt sich das mündige, aber noch „vorläufige“ Ich verant¬wortlich für die eigenen Entwicklung und arbeitet daran, sein Denken und Fühlen zu kontrollieren. Das Ich will sich in der eigenen Seele immer tiefer beheimaten und auskennen lernen. Rudolf Steiner nennt diese Epoche Empfindungsseele – man möchte die Welt wirklich empfinden und erleben. Deshalb ist diese Phase geprägt von einer Sehnsucht nach möglichst vielen Begegnungen. Es ist ideal, wenn die jungen Menschen ins Ausland fahren und unterschiedliche Erfahrungen mit diversen Menschen und Arbeitsbereichen sammeln können, bevor sie sich für ein Berufsfeld entscheiden. Die Selbsterfahrung steht hier im Vordergrund.

  • 28 bis 35 Jahre – Entwicklung der Verstandes- und Gemütsseele

Das ändert sich ganz natürlich zwischen 28 und 35 Jahren. Jetzt kommt eine andere Sehnsucht auf: die Sehnsucht nach sozialer Verantwortung. Man möchte etwas tun, weil es nützlich ist und gebraucht wird. Wer in diesem Alter eine Familie gründet, ist in der Lage, sich selbst um der anderen willen zurückzunehmen. Oder man setzt sich voll im Beruf ein. Auf eine Weise genießt man, dass man jetzt die objektiven Gesetze dieser Welt und der Arbeit wichtig nehmen kann und nicht ständig nach sich selber fragen muss. Rudolf Steiner nennt diese Fähigkeit Verstandes- und Gemütsseele. Der Verstand wird jetzt führend, und wenn man in den Jahren davor seinen Lebenshunger stillen konnte, leidet man in dieser Phase keinen Verzicht, sondern hat Freude daran, sich den objektiven Weltverhältnissen zuzuwenden und sich in ihren Dienst zu stellen.

  • 35 bis 42 Jahre – Entwicklung der Bewusstseinsseele

Zwischen 35 und 42 kommt ein dritter Schritt im Seelenleben, nach Empfindung und Verstand geht es jetzt um die Entwicklung eines höheren Bewusstseins. Wir begreifen, dass wir Teil der ganzen Menschheit sind und dass unser Leben sich nicht nur um unser persönliches Schicksal und unsere Vorlieben drehen kann, auch nicht nur um unsere Arbeit, unsere Familie und unseren Schicksalsumkreis. Jetzt gilt es sich den Menschheitsfragen zu stellen, den Fragen, die die Menschheitsentwicklung betreffen.

Goethe sagte in diesem Alter: „Wer nicht von 3.000 Jahren sich kann Rechenschaft ablegen, bleibt im Dunkel unerfahren, mag von Tag zu Tage leben …“ Erst wenn man 1.500 Jahre zurück und 1.500 nach vorne zu blicken in der Lage ist, bekommt man eine Ahnung, wo die Menschheit in der Gegenwart steht und was geschehen muss, damit die Menschheit in 100 Jahren woanders steht. Man bekommt ein Bewusstsein von der eigenen Verantwortung für das große Menschheitsganze.

Deswegen ist diese Lebensphase nicht unkritisch. Man könnte sie als kalt erleben, weil man sich in diesem großen Ganzen des Weltgetriebes mit all seiner Verrücktheit, Korruption, Gewalt und den andauernden Kriegen usw. verlieren kann. Man kann jedoch auch von Liebe und Wärme zu diesem großen wunderbaren Ganzen ergriffen werden und dem Wunsch, etwas Sinnvolles beizutragen. Jetzt fühlt man sich angeschlossen an die Geschichte, an die Kultur, an die Entwicklung der Menschheit und an die großen Sinnfragen der heutigen Zeit. Dadurch erst beheimatet sich das Ich in der Seele und man hat seelische Reife erlangt.

C Geistige Reifungsschritte

Nach der seelischen Reifung kommen die Gesetze der geistigen Reifung zum Tragen. Diese Phase ist von Lebensmittekrisen und anderen Lebenskrisen gekennzeichnet, weil die geistige Entwicklung die Krise als Anstoß braucht. Die seelische Stabilität verleitet uns dazu, stehen zu bleiben, die eigene Macht weiter auszubauen, den Besitzstand zu wahren, sich zu etablieren, sich allzu gemütlich ein zurichten. Man läuft Gefahr, mit dem Ich im Seelisch-Körperlichen steckenzubleiben, in eine Sackgasse zu geraten. Doch erst der Aufbruch in die geistige Entwicklung ist der Aufbruch in die wahre Autonomie.

  • 42 bis 49 – Arbeit am Geistselbst durch Selbstlosigkeit

Zwischen 42 und 49 ist es oft so, dass man vor neue Entscheidungen gestellt wird – oft auch beruflicher Art – und man sagt: „Dieser Aufgabe stelle ich mich, weil sie gebraucht wird“. Wenn man die Bewusstseinsseele entwickelt hat, kann man von sich selber absehen. D.h. in diesem Alter kann man beginnen, selbstlos zu handeln. Dadurch entwickelt sich die Anlage zum sogenannten Geistselbst2 (vgl. Wille(nsschulung): Übersicht über die neungliedrige Willensnatur) weiter, das Rudolf Steiner als die vom Ich beherrschte Seelenkraft beschreibt.

Es ist ein Evidenzerlebnis zwischen 42 und 49, dass man sich Dinge zutraut, die man sich vorher nicht zugetraut hätte. Dazu gehört, Herausforderungen anzunehmen, auch den Mut zu haben, versagen zu können, danke der Haltung: „… dann geht es eben schief, aber die Chance, dass es klappt, ist auch da.“ Während der körperlich-seelischen Reifungszeit hat man Angst zu versagen, aber in diesem Alter kann man davon absehen. Man hat sich vom Seelischen und Körperlichen soweit emanzipiert, dass man die eigene Seele und den eigenen Körper dem selbstbestimmten Geist als Instrumente zur Verfügung stellen kann.

  • 49 bis 56 – Arbeit am Lebensgeist durch Milde

Zwischen 49 und 56 erwacht die Urteilsreife, was sich darin zeigt, dass man im Fühlen und Denken von sich selbst absehen kann und dadurch die Fähigkeit zu spiritueller Empathie entwickelt: Man kann sich jetzt in die Menschen im eigenen Umkreis hineinversetzen und kann Dinge von ihrem Standpunkt aus beurteilen. Wie oft passiert es, dass gesagt wird: „Ich an deiner Stelle würde das so und so machen, meine Erfahrung war so und so … “. Aber das darf nicht der Maßstab sein, sondern man muss vom anderen ausgehen – das wird jetzt möglich.

Ein Kennzeichen dieser sozialen Urteilskompetenz ist die Milde, die Dinge beurteilen kann, ohne sie zu verurteilen. Sympathie und Antipathie dienen jetzt als Wahrnehmungsorgane für das, was den anderen betrifft. Das Ideal ist, dass der andere durch die Fragen, die man ihm stellt, sich so angesprochen fühlt, dass er durch sich heraus die Antwort findet. Dadurch wird der sogenannte Lebensgeist (vgl. Wille(nsschulung): Aufbau der Willensstufen aufeinander ) veranlagt, den Steiner in der „Theosophie“3 beschreibt.

  • 56 bis 63 – Arbeit am Geistesmenschen durch Güte

Der dritte Schritt der geistigen Reifung dient der Veranlagung des Geistesmenschen.4 Kernmerkmal ist die Qualität der Güte, einer geistigen Kompetenz, die von Überschau und Großzügigkeit zeugt. Große Führungspersönlichkeiten beginnen jetzt energisch, für ihre Nachfolge zu sorgen und sich überflüssig zu machen - im Vertrauen, dass das betreffende Unternehmen gut weitergeht, auch wenn die nachfolgende Generation manches anders machen wird. Das ist das Gegenteil des Bestrebens, die eigene Macht zu erhalten und sich als unentbehrlich zu erleben. Man erlebt sich dabei als Instrument, das dem Guten dienen möchte.

  • Ab dem 64. Lebensjahr – Mit den Konsequenzen leben

Nach dem Alter von 63 Jahren lebt man mit den Konsequenzen der biografischen Entwicklung, die bis dahin stattgefunden hat. Daher empfinden viele Menschen gerade rund um die Pensionierung und danach das Bedürfnis, ihre Biografie zu bearbeiten vor dem Hintergrund der Frage:

Habe ich wirklich mein Leben gelebt?

Oder wurde ich nur „gelebt“ und habe vieles einfach „geschluckt“ und „weggesteckt“, auf vieles verzichtet und mich im Grunde genommen nicht wirklich zu mir bekannt?

Remo Largo ist in seinem letzten Buch „Das passende Leben“5 dieser Frage nachgegangen. Darin sind viele Anregungen zu finden, wie man Versäumtes nachholen und verschüttete Fähigkeiten auch noch im Alter zur Entwicklung bringen kann. Man kann jetzt ein neues Interesse für Kultur und Kunst entwickeln, auf andere Menschen zugehen, sich für vieles interessieren und sich dabei weiterentwickeln. Jetzt kann man Vieles aus innerer Freiheit heraus tun und es bewusster handhaben, als dies vorher unter dem Druck der Notwendigkeit möglich war. Man ist jetzt in der glücklichen Lage, das eigene Leben aus freien Stücken neu zu gestalten.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. und 14. März 2020

  1. Vorliegender Text ist der 3. Teil einer Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März 2020, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“.
  2. Rudolf Steiner, Theosopie, GA 9.
  3. Ebenda.
  4. Ebenda.
  5. Remo Largo, Das passende Leben, Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können, S. Fischer, Mai 2017.