Die Rolle der Eltern in der Biographie

Wer oder was hat mich erzogen?

Welche Rolle spielten die Eltern dabei?

Wer oder was Einfluss auf die Erziehung hat

Wer in seine Vergangenheit zurückschaut und sich fragt, welche Personen oder Einflüsse prägend für seine Erziehung waren, wird das gar nicht so schnell beantworten können. Am leichtesten kann man das noch an bestimmten Einzelheiten und Erlebnissen festmachen, an denen einem etwas klargeworden ist und durch die man sich vielleicht zum Pünktlich-Sein oder zur Hilfsbereitschaft entschlossen hat. Oft ist es jedoch so, dass Menschen das Gefühl haben, recht „normal“ gelebt zu haben, mehr oder weniger leicht „durchgekommen“ und nicht durch spezifische Maßnahmen „erzogen“ worden zu sein. Es gibt auch Eltern, die sagen, sie hätten ihre Kinder nicht erzogen, das hätten die Geschwister untereinander selbst gemacht durch all ihre Interaktionen hindurch wie z.B. Streiten und Versöhnen, Lieben und Hassen.

So kann es auch hilfreich sein, sich diese Frage in Bezug auf die vier Wesensebenen zu stellen (vgl. Erziehung: Erziehung mit Bezug auf die Wesensglieder):

Wodurch wurde mein Ich-Erleben, mein Selbstbewusstsein gebildet?

Was hat besonders auf meine Gefühlsentwicklung eingewirkt?

Welche Einflüsse haben mir zu meiner aktuellen Vitalität und Gewohnheitsbildung beigetragen?

Was hat meinen physischen Leib in seiner Entwicklung beeinflusst, hat ihn geschwächt oder gestärkt? 1

Schauen wir in dieser Weise zurück, werden uns viele Faktoren bewusstwerden, die zu unserer Erziehung beigetragen haben bzw. mit denen wir uns auseinanderzusetzen hatten, um zu denen zu werden, die wir geworden sind.

Der (begrenzte) Einfluss der Eltern

Im Zusammenhang mit der Rolle von Vater und/oder Mutter in der Kindheit und deren Auswirkung auf das spätere Leben kann man alles erleben: Die totale Identifikation mit dem Väterlichen, mit dem Mütterlichen oder mit dem Verhalten eines anderen mit dem Kind zusammenlebenden Menschen. Man kann aber auch ein sehr negatives Bild von den eigenen Eltern entwickeln und als Konsequenz sagen: „Wenn Ehe so ist, heirate ich nie!“ Möglicherweise gibt es eine Schwester oder einen Bruder im selben Elternhaus, der/die ganz anders auf dieses Milieu reagieren, indem er/sie sehr früh heiratet und bestrebt ist, alles ganz anders zu machen, als er/sie es zu Hause erlebt hat.

Man kann sagen: Der Einfluss der Eltern auf das eigene Verhalten im späteren Leben ist so stark, wie wir es letztendlich zulassen, weil er sich bewusst durch Selbsterziehung verändern lässt. Selbst die Vorstellungen der Eltern, wen sich das Kind als Vorbild nehmen bzw. an wem es sich orientieren soll, haben erstaunlich wenig Einfluss, sodass man auch hier feststellen kann: Die Wahl, zu welchem Menschen das Kind aufschaut, trifft es letztlich selbst (vgl. Begabung und Behinderung: Wer spielt das Klavier der Gene?). Ob es sich mehr mit dem Vater oder der Mutter identifiziert, hängt nicht davon ab, ob er oder sie mehr Sympathie für das Kind empfindet, sondern davon, ob das Kind seinerseits Sympathie für Vater bzw. Mutter entwickelt. Auch wenn es so aussieht, als hätte einen dieser oder jener Mensch im Guten wie im Schlechten geprägt, muss man sich ehrlicherweise eingestehen: Man hat sich prägen lassen.

Resilienz trotz und durch negative Erfahrungen

Es gibt immer wieder erstaunliche Beispiele von Menschen, die unter schwierigsten Verhältnissen aufgewachsen sind und dennoch keinen Schaden fürs Leben davongetragen haben, sondern vielmehr eine große Motivation und Kraft entwickelten, weil sie in ihrem Umkreis oder in der Schule einen Menschen getroffen haben, den sie liebten und verehrten und von dem sie sich so stark positiv motivieren ließen, dass die anderen negativen Einflüsse keine anhaltende Wirkung zeigten (vgl. Kindsein heute: Resilienz trotz Risiko). Oder aber sie nahmen diese negativen Erfahrungen zum Anlass, sich schon recht früh für spirituelle Fragen zu interessieren. So kann im späteren Leben eine besondere Charaktereigenschaft und Fähigkeit ihren Ursprung darin haben, dass jemand eine problematische Kindheit oder eine sehr schmerzvolle Menschenbeziehung konstruktiv verarbeiten konnte. Wären dieselben Menschen in harmonischen Verhältnissen, bequem und umsorgt aufgewachsen, hätten sie diese Fähigkeiten nicht in dieser Weise entwickeln können und wären vielleicht bestimmten Lebenssituationen nicht annähernd so gut gewachsen gewesen (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Traumatherapie als moderner Weg zur wahren Identität).

Dennoch zeigen die vielen Biographien, die von Scheitern, Stagnation oder Sucht und Abhängigkeit bestimmt sind, dass die Zeit vorbei ist, in der man Erziehung einfach nur nach Gutdünken vornehmen oder lassen kann (vgl. Kindsein heute: Drogensucht verstehen - und ihr entgegenwirken). Auch kann man sich nicht mit dem Gedanken beruhigen, dass sich das Kind schon sucht, was es braucht. Es ist notwendig, bewusst umfassende Angebote für Begegnungen und Tätigkeiten zu machen, damit die Kinder auch tatsächlich finden können, was sie brauchen. Wie dieses Angebot dann jedoch von dem einen oder anderen Kind genützt wird, ist offen – keiner kann das letztlich voraussagen.

Je stärker eine Persönlichkeit ist, desto selbstbestimmter wird sie mit Erziehungseinflüssen umgehen. Je schwächer sie ist, umso mehr wird sich der betreffende Mensch – im Guten wie im Schlechten – an die Umgebungsverhältnisse anpassen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Vgl. hierzu z.B. das Kapitel Das Wesen des Menschen in: Rudolf Steiner, Thesophie, GA 9, oder das Kapitel Wesen der Menschheit in: ders., Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13.