Weg und Ziel der Biografiearbeit – die zweite Geburt in der Biografie1
Was ist das Arbeitsfeld der Biografiearbeit?
Wobei ist sie hilfreich?
Was ist mit „zweiter Geburt“ gemeint?
Die zweite Geburt
In den spirituellen Traditionen und auch im Christentum gibt es die wunderbare Lehre von den zwei Geburten: dass man zweimal geboren werden kann. In der Biografiearbeit arbeiten wir in dem Spannungsfeld zwischen dem alten, naturgegebenen Selbstverständnis, das uns mit der ersten Geburt geschenkt wird, und einem neuen durch den Prozess der „zweiten Geburt“ selbst errungenen Selbstverständnis. So gesehen kann die Biografiearbeit wie eine Geburtsvorbereitung verstanden werden für die zweite Geburt, die dann jeder selbst vollziehen muss.
Die zweite Geburt wird im dritten Kapitel des Johannes¬evangeliums sehr klar und präzise geschildert: Unter den Pharisäern war ein Mann mit Namen Nikodemus, vom Rang eines Archon unter den Juden. Dieser kam nachts zu ihm und fragte: „Wie kann ein Mensch geboren werden, der schon im Greisenalter ist, kann er in den Leib seiner Mutter zum zweiten Mal hineingehen und geboren werden? Antwortete Jesus: Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Wenn nicht jemand geboren wird aus Wasser und Geist, der kann nicht eingehen in das Reich Gottes.“ 2
Was aber bedeutet es wiedergeboren zu werden aus Wasser und Geist?
Hier bietet die anthroposophische Menschenkunde einen hilfreichen Ansatz zum Verständnis, der im Folgenden dargestellt wird.
Die zwei Anteile der ätherischen Organisation
- Flüssigkeitsorganismus – leibgebundener Anteil
Wasser ist der Träger des Lebendigen, ist Grundlage alles Zirkulierenden und Prozessualen und auch Grundlage der Lebenszeit. In der anthroposophischen Menschenkunde wird der wässrige Anteil des Menschen Flüssigkeitsorganismus genannt. Wir bestehen aus ca. 70% Flüssigkeit, die ständig in Zirkulation begriffen ist. Sie ist Träger all der Gesetze, die in ihrer Summe den sogenannten Lebensleib, das Leben in uns, ausmachen.
Leben ist eine sehr komplexe Erscheinung, die aus unzähligen Gesetzmäßigkeiten besteht, alleine wenn wir die Biochemie betrachten und alles, was an Stoffumwandlung im menschlichen Organismus stattfindet: Wachstum, Entwicklung, Regeneration, die Überwindung von Krankheitsprozessen in Heilprozesse etc. Diese komplexe Lebenstätigkeit nennt Rudolf Steiner „ätherische Organisation“. Wir brauchen ein Verständnis der ätherischen Organisation, um diese Stelle der zweiten Geburt im Johannes-Evangelium zu verstehen.
- Gedankenorganismus – leibfreier Anteil
Aber was bedeutet „aus dem Geist geboren“? Was ist Geist?
Das lässt sich anhand eines Forschungsergebnisses von Rudolf Steiner darstellen. Er fragte sich, was mit den Kräften geschieht, die Wachstum und Regeneration ermöglichen, im Körper nicht mehr gebraucht werden, z.B. weil die Regeneration nachlässt oder weil das Wachstum beendet ist, und kam zu folgendem Ergebnis: Diese nicht mehr gebrauchten Kräfte, gehen aus dem Körper wieder heraus, werden leibfrei, und bilden die gedankliche Aura, in die jeder Mensch sozusagen eingebettet ist (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Wachstums- und Gedankenkraft). Diese Gedankenaura umgibt unseren Kopf und unsere Gestalt als Gedankenleben, das sich am Gehirn reflektiert. Steiner begriff das gesunde Gehirn als einen „Gedankenreflexionsapparat“; wenn es erkrankt, kann es die Gedanken nicht mehr reflektieren. Aber auf keinen Fall sah er das Gehirn als Organ, das Gedanken produziert. Denn die Gesetze des Lebens gehen ja nicht aus der Substanz hervor, sondern sie bilden die Substanz erst.
Leben bringt Stoff hervor und nicht umgekehrt
Das kann man wunderbar sehen am Übergang vom Mineralreich zum Pflanzenreich:
Die Elemente, die das Mineralreich konstituieren, sind chemische, in ihrer Menge überschaubare Elemente.
Wenn man damit die sekundären Pflanzenstoffe vergleicht, von denen der größte Teil heutzutage biochemisch erforscht ist, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Täglich werden neue sekundäre Pflanzenstoffe entdeckt.
Diese ganze Stoffes- und Substanzfülle bildet sich aus den ätherischen Lebensprozessen heraus. Sie entstammt nicht den Molekülen des periodischen Systems mit seinen Elementen, sondern sie sind ein Ergebnis der Lebenstätigkeit, von der sie gebildet werden. Ebenso bilden Tiere ihre ganz arteigenen Substanzen. Und noch spezieller ist das bei dem Menschen: Jeder Mensch ist eine „Art“ für sich, weil er sein ganz individuelles, spezifisches Eiweiß hervorbringt.
Die Weisheit unseres Denkens
Diese leibgebundene unermüdlich Neues erschaffende ätherische Lebensgesetzlichkeit können wir in der Weisheit unseres Denkens wiederfinden, das wir – wie oben beschrieben – den leibfrei gewordenen ätherischen Kräften verdanken. Deshalb hat unser Denken auch Zugang zur Weisheit unserer Schöpfung, sodass wir in der Lage sind, die Naturgesetze wie auch die kosmischen Gesetze mit unserem Denken zu erfassen (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen). Die Gedanken sind der leibfreie Teil dieser Schöpfungsweisheit, die in unserem Körper wie in einem Mikrokosmos in Form der als Naturgesetze wirkt. Die Weisheit, die uns bildet, ist ebendie reflexive Weisheit, mit der wir die Welt verstehen können.
Das ist im Johannes-Evangelium gemeint mit „aus dem Geist geboren“. Das Gedankenleben verdankt sich im Grunde einem aus dem Körper „herausgestorbenen“ Kräftewirken. Somit ist das Denken bereits eine außerkörperliche Erfahrung. Diese zweite Geburt, aus Wasser und Geist, findet im Ätherischen und im lebendigen Denken statt.
Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. und 14. März 2020
- Vorliegender Text ist eine Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß «Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis».
- Neues Testament, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 3.