Krankheit als Schicksalsereignis

Inwiefern kann man Krankheit als Schicksalsereignis auffassen?

Haben Krankheiten einen Sinn?

Welchen Erkenntnisgewinn hat man davon?

Zum Sinn von Krankheit

Zu den schwierigsten Fragen in der Biografiearbeit gehört die Frage nach dem Sinn von Krankheit und Leid (vgl. Krankheit: Krankheit, Heilung und die Frage nach dem Sinn). Für viele Menschen ist schon die Frage nach dem Sinn in diesem Zusammenhang etwas, das sie irritiert, ja sogar ärgert. Auch die Schuldfrage lauert im Hintergrund.

Wenn man den Schicksalsgedanken jedoch ernst nimmt, liegt es nahe, die Ursache für Krankheiten zumindest teilweise bei sich selbst zu suchen (vgl. Schicksal und Karma: Urteilsfähigkeit in Schicksalsfragen). Das kann sehr ernüchternd sein, je nachdem, um welche Krankheit es sich handelt. Die rein naturwissenschaftlich-reduktionistisch ausgerichtete Medizin sieht Krankheit als reinen Störfall der Natur oder, wie es im Englischen heißt, als „inborn error of metabolism“, als einen Fehler im Stoffwechselsystem, den es zu erkennen und zu korrigieren gilt. Man versucht, das Auftreten von Krankheit möglichst zu kontrollieren bzw. zu verhindern.

Selbstverständlich dient auch eine integrative Medizin, die spirituelle Gesichtspunkte mit einbezieht, dem Ziel, Krankheiten zu lindern und zu heilen. Sie klammert aber nicht per se die Sinn- und „Schuldfrage“ aus (vgl. Anthroposophische Medizin: Fünf Ursachen für Krankheit und fünf Wege zur Heilung). Denn wer einen schweren Autounfall erleidet oder schon von Kind an einen Diabetes Typ eins hat oder im fortgeschrittenen Alter von einer schweren Krebserkrankung heimgesucht wird, erlebt das als existenzielle Krise. So etwas wird Teil seiner Biografie und bedarf einer sinnstiftenden Bearbeitung, damit man nicht mit seinem Schicksal zu hadern beginnt. Denn nichts raubt mehr Kraft, als mit sich selber uneins zu sein, wohingegen es Kraft gibt, wenn es einem gelingt, das eigene Schicksal anzunehmen (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal).

Drei allgemeine Krankheitstypen als Entwicklungshelfer

Wie kann man im Rahmen der Beratung den Betroffenen helfen, an sich und die Situation weiterführende Fragen zu stellen?

Es kann sehr hilfreich sein, sich klarzumachen, dass jede menschliche Biografie von drei Krankheitsformen begleitet wird, die ganz unabhängig vom individuellen Schicksal eines Menschen im Laufe des Lebens auftreten können.

  • Körperliche Lernaufgaben durch akutes Infektionsgeschehen

In der ersten Lebenszeit, in der die körperliche Entwicklung im Vordergrund steht, kommt es gehäuft zu akuten Infektionskrankheiten. Mit Ausnahme seltener Komplikationen sind diese meist auch mit Fieber einhergehenden Infekte im Kindesalter etwas, womit alle Eltern rechnen und was den Alltag der Kinderärzte bestimmt. Im besten Fall wird der Kinderarzt den Eltern erläutern, dass diese Infekte nicht sinnlos sind – auch das Fieber nicht – weil sie dem Kind helfen ein starkes Immunsystem aufzubauen. Man weiß ja seit den siebziger Jahren, dass Fieber unmittelbar immunstimulierend wirkt und sollte deswegen auch nur im Ausnahmefall mit chemischen Mitteln gesenkt werden sollte.1

  • Seelische Lernaufgaben durch psychosomatische Erscheinungen

Zwischen 20 und 40 Jahren sind die meisten Menschen körperlich gesund und belastbar. Fast jeder erlebt aber Zeiten großer seelischer Belastung – sei es im Rahmen des Studiums, der Berufsausbildung oder im privaten Umfeld wie z.B. in Partnerschaft und Familie. Stress, Mobbing und Beziehungskrisen zehren an den Nerven und sind oft die Ursache von psychosomatischen Beschwerden. Diese können sich in Form von Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Kopfweh, Herzstichen, depressiven Verstimmungen und anderen Unpässlichkeiten äußern. Wenn man jedoch zum Arzt geht, um sich behandeln zu lassen, findet er keine rechte körperliche Ursache für die Beschwerden und spricht allenfalls von vegetativer Dystonie.

Selbstverständlich kann man symptomatische Mittel wie Beruhigungs-, Schmerz- oder Schlafmittel einsetzen. Die Ursache der Beschwerden wird dadurch jedoch nicht beseitigt. Dies gelingt erst, wenn es dem Betreffenden gelingt sich auch ein „seelisches Immunsystem“ in Form von Resilienz und Stresstoleranz zuzulegen. Ohne die Bereitschaft an sich zu arbeiten und einen wie auch immer gearteten inneren Entwicklungsweg einzuschlagen, der der Stabilisierung dient, kann man solche Probleme nicht nachhaltig lösen. In dem Buch „Meditation in der Anthroposophischen Medizin“ finden sich reichhaltige Anregungen zum Selbststudium und für die Beratung.2

  • Körperliche Lernaufgaben durch akutes Infektionsgeschehen

Im letzten Lebensdrittel sind es chronischen Krankheiten, die viele Menschen im vorgerückten Lebensalter leicht oder mittelgradig belasten. Damit sind jetzt die chronischen Krankheiten gemeint, die als natürliche Begleiterscheinung des alternden Organismus auftreten und mit denen man in der Regel gut zurechtkommt. Man kommt schneller außer Atem, hat vielleicht Probleme mit dem Knie und Ähnliches. Auch diese Krankheitsgruppe fügt sich sinnvoll in die biografische Situation ein. Denn jetzt geht es um die Erarbeitung eines „geistigen Immunsystems“. Wenn der Körper altert und Schwachstellen aufzeigt, merkt man, dass man älter wird, dass die eigene Lebenszeit früher oder später zu Ende geht. Viele fragen sich, was danach kommt.

Märchen vom Gevatter Tod als Wahrbild

Die Brüder Grimm haben ein Märchen mit dem Titel „Der Gevatter Tod“ publiziert. Dort wird diese Situation im Märchenbild auf den Punkt gebracht: Einem armen Mann wird ein 13. Kind geboren und er findet niemanden, der dem Kind als Pate zur Seite stehen will. So geht er hinaus in den Wald und auf die Straßen, um jemanden zu suchen. Da begegnet ihm der liebe Gott und verspricht seinem Kind ein gutes Leben. Der Mann lehnt jedoch ab, da Gott die Reichen belohnen und die Armen leer ausgehen lassen würde. Danach begegnet ihm der Tod und ist auch bereit, Pate zu werden. Ihn akzeptiert der Mann, da der Tod die Reichen und Armen ohne Unterschied holen würde. Dieser verspricht ihm, dass sein Sohn ein guter Arzt werde. Als dieser erwachsen ist, bekommt er von seinem Paten eine Flasche mit Arznei und eine Salbe für die Füße. Zudem gibt ihm der Tod konkrete Anweisungen, wie er damit umgehen solle: Wenn er bei einem Kranken am Kopfende des Bettes stehen würde, solle er ihn an der Arznei riechen lassen und die Füße salben – denn dieser Mensch würde wieder gesund. Stünde er aber am Fußende, so solle er die Behandlung unterlassen und sagen, dass ärztliche Hilfe hier zu spät komme.

Dieses Märchen bringt heute allgemein bekanntes medizinisches Wissen ins Bild: dass viel Bewegung und gesunde Ernährung die wichtigsten Voraussetzungen für ein gesundes Altern sind, ebenso wie geistige Aktivität. Doch auch ein gesundes Verhältnis zum Sterben ist integraler Bestandteil des Lebens.

Diese drei Krankheitsgruppen – akute, psychosomatische und chronische Ereignisse – haben einen tiefen Sinn für die Biografie, da sie den betreffenden Menschen alters- und entwicklungsgerechtin seiner Widerstandskraft und Resilienz stärken. So gesehen stellen sie sinnvolle Ereignisse dar.

Entwicklung durch Krankheit ist typisch menschlich

Interessanterweise gibt es eine solche Entwicklungshilfe in der Natur bei wild lebenden Tieren nicht. Ihre Entwicklung verläuft gesund. Wenn ein Tier krank oder schwach wird, stirbt es bald, entweder weil ihm die Nahrungssuche nicht mehr gelingt oder weil es gefressen wird. Mit Krankheiten zu leben, sprich: in der Auseinandersetzung mit Krankheit etwas zu entwickeln, was ohne sie nicht gelingen könnte, ist spezifisch menschlich.

Wer darüber nachdenkt, versteht schnell, dass Krankheiten im Leben eines Tieres sinnlos wären. Denn Tiere sind von Natur aus vollkommen, im Gegensatz zum Menschen, der wie oben charakterisiert, defizitär zur Welt kommt. Ein Mensch kann durch Leid und Schmerz Erfahrungen machen, die für seine weitere Entwicklung notwendig sind, die ihm Chance geben menschlich zu reifen – auch wenn man das oft erst viel später im Rückblick einsieht (vgl. Entwicklung: Entwicklungsgedanke und Wiederverkörperung). Würde sich eine Kuh das Bein brechen, würde sie durch eine solche Erfahrung nicht „kuhiger“ werden (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Zwischen Tier und Mensch unterscheiden). Wir Menschen haben aber die Möglichkeit durch überwundene Krankheiten noch menschlicher werden (vgl. Krankheit: Grundlegendes zum Sinn von Krankheit).

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, auch bei nicht typischen, unerwartet im Schicksal auftretenden Krankheiten, nach deren Sinn zu fragen. Mir wurde diese Frage im Laufe meiner ärztlichen Tätigkeit von Patienten immer wieder gestellt. Dabei war es mir stets ein großes Anliegen, die Frage so zurückzugeben, dass der Betroffene sich aufgerufen fühlt, sich selber die Antwort auf den Sinn seiner Erkrankung zu geben.

Exemplarische Krankheitsgeschichten

Dabei hat mir das Studium der Krankengeschichten im Neuen Testament sehr geholfen. Nicht nur weil dort der Verlauf bestimmter schwerer Krankheiten geschildert wird, sondern vor allem, weil dabei drei ganz verschiedene Krankheitsformen charakterisiert werden, die jeweils unterschiedliche Perspektiven deutlich machen.

  • 1. Persönlich begründetes Krankheitsgeschehen

Zum einen gibt es Erkrankungen, die auf ein persönliches Verschulden zurückzuführen sind. Das zeigt sich deutlich durch die Art, wie Jesus dem Kranken begegnet und die Heilung herbeiführt. In diesen Fällen wird der Kranke mit den Worten entlassen: „Sündige hinfort nicht mehr“.3

  • 2. Sozial begründetes Krankheitsgeschehen

Ganz anders verhält es sich beim Hauptmann von Kapernaum, dessen geliebter Knabe erkrankt ist. Er schickt die Ältesten der Juden zu Jesus, sozusagen die Honoratioren des Ortes, um für ihn zu bitten. Sie tun das, weil der römische Hauptmann Geld für die Synagoge gegeben hat und als guter Mensch gilt. Als Jesus sich anschickt den Kranken aufzusuchen, schickt der Hauptmann ihm seine Freunde entgegen, um ihm zu sagen: „Herr ich bin nicht würdig, dass du unter mein Dach kommst, aber sprich nur ein Wort, so wird mein Knabe gesund. Daraufhin sagt Jesus zu den umstehenden: Solch einen Glauben habe ich bisher in Israel nicht gefunden und zur Stunde ist der Kranke gesund.“4

Diese Geschichte macht deutlich, dass die beiden Hauptbetroffenen, nicht der Hauptmann und der Knabe die eigentliche Ursache für das Heilungsgeschehens sind. Sie sind vielmehr „nur“ der Anlass dafür, dass viele Menschen die Möglichkeit bekommen, Jesus und sein Wirken kennen zu lernen, was ohne diesen Krankheitsfall nicht in diesem Umfang möglich gewesen wäre. Der Sinn einer Krankheit kann also auch darin liegen, dass Menschen im Umkreis des Betroffenen neue Impulse für ihre Entwicklung bekommen. Damit ist der Sinn dieser Krankheit erfüllt und der Betroffene wird wieder gesund.

  • 3. Im Menschheitsschicksal begründetes Krankheitsgeschehen

Eine dritte Form stellt die erste Krankengeschichte im Lukasevangelium dar. Hier heilt Jesus am Sabbat in der Synagoge von Kapernaum einen Menschen, der von einem Dämon besessen ist. Jesus spricht nur mit diesem Krankheitswesen, nicht jedoch mit dem Erkrankten und auch nicht mit den Menschen, die dieser Szene beiwohnen. Diese dritte Form scheint also weder persönliche noch soziale Ursachen zu haben, sondern mit dem Schicksal der Menschheit als solcher zusammenzuhängen.5

Man fühlt sich bei diesem dritten Krankheits- und Heilungsgeschehen an die Geschichte von Hiob im Alten Testament erinnert, durch die ebenfalls deutlich wird, dass die Ursache für Hiobs Unglückssträhne weder bei ihm persönlich noch in seinem sozialen Umfeld liegt (vgl. Krankheit: Hiob – Schuld und Krankheit). Denn Hiob führt ein Gott wohlgefälliges Leben, das keinen Anlass für eine Erkrankung gibt. Als Leser weiß man jedoch, dass Gott und Teufel eine Art Wette abgeschlossen haben vor dem Hintergrund der Frage, ob Hiob Gott treu bleiben werde, auch wenn er mit Krankheit, Schmerz und Entzug seiner bisherigen Lebensgrundlagen gepeinigt wird. Am Ende dieser qualvollen Prüfung erkennt Hiob sich als integralen Teil der Menschheit, er darf Gott schauen und bittet IHN darum, ihn zu lehren. Auch hier sind Krankheit, Entwicklung und Lerngewinn untrennbar miteinander verbunden.6

Notwendigkeit individueller Antwortfindung

Menschen, die solche „Heimsuchungen“ erleben, sind aufgerufen, sich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn an ihrem persönlichen Schicksal selber zu geben. Denn selbst wenn zwei Menschen an derselben Krankheit leiden, sind die Ursachen möglicherweise grundverschieden. Die Erfahrung zeigt, dass wenn man als Arzt oder sonstiger Begleiter die unterschiedlichen Krankheitsursachen andeutet, die Betroffenen sehr rasch merken, in welche Richtung es bei ihnen geht. Diese Erkenntnis den Sinn des Krankheitsgeschehens betreffend, kann sehr erlösend sein, selbst wenn die Krankheit zum Tode führt.

Es kann aber auch sein, dass man durch das Erleiden einer bestimmten Krankheit, die viele Menschen betrifft, wie es z.B. bei Krebs oft der Fall ist, durch die Art, wie man damit umgeht, etwas zum Menschheitsfortschritt beitragen kann. Die Zeitkrankheit Krebs vereint viele Menschen in der gemeinsamen Erfahrung, z.B. dass sie den Schock der Krebsdiagnose verarbeiten müssen. Rudolf Steiner sagte diesbezüglich, dass es für den weiteren Schicksalsverlauf und das nachtodliche Leben einen Unterschied mache, mit welchen Menschen und Menschengruppen man gemeinsame Erfahrungen auf der Erde gemacht hat. Denn durch diese gemeinsamen Erlebnisse fühlt man sich auch in der geistigen Welt verwandt und kann dadurch in einem späteren Leben eine Zusammenarbeit in größeren Zusammenhängen veranlagen.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021

  1. Dr. med. Michaela Glöckler, Dr. med. Wolfgang Goebel, Dr. med. Karin Michael: Kindersprechstunde, Kapitel “Fieber und seine Behandlung”.
  2. Michaela Glöckler, Meditation in der Anthroposophischen Medizin: Ein Praxisbuch für Ärzte, Therapeuten, Pflegende und Patienten.
  3. Neues Testament, Joh. 8, 11.
  4. Ebenda, Lukas 7, 7, zit. nach der Übersetzung von Emil Bock.
  5. Ebenda, Lukas 4, 31-37, zit. nach der Übersetzung von Emil Bock.
  6. Michaela Glöckler, Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015.