Medizinische Weiterbildung für Biographiearbeiter

Welche Möglichkeiten der medizinischen Weiterbildung für Biografiearbeiter gibt es?

Warum und für wen ist sie wichtig?

Ich möchte an die ursprüngliche Intention der Zusammenkünfte von Biographiearbeitern in der Medizinischen Sektion erinnern. Bernhard Lievegoed1 und Gudrun Burkhard2, die eine sehr enge Zusammenarbeit verband, merkten damals, dass die Biographiearbeit im Begriff war, eine Schwelle zu überschreiten: In den Ausbildungen wurden nur in geringem Umfang medizinische Grundlagen vermittelt. Viele der Klienten waren jedoch wirklich krank und die Biographiearbeiter waren damals nicht in der Lage einzuschätzen, ob sie noch Zugang zum Ich der Klienten hatten oder nicht.

Notwendigkeit von medizinisch-psychologischem Wissen

Wenn das Ich eines Menschen manchen Seelenzuständen hilflos gegenübersteht, braucht der Betreffende psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe, er benötigt Medikamente und Therapie. Lievegoed bat mich, die Biographiearbeiter dabei zu unterstützen, ihr Bewusstsein für genau diese Fragen zu sensibilisieren.

Deshalb würde es mich sehr freuen, wenn Sie Ihr medizinisches Wissen vertiefen wollen. Wir könnten z.B. den Biographiearbeit-Tagungen alle zwei Jahre eine Art Arbeitsgruppe voranstellen, die sich zwei Tage lang mit Themen wie Prävention, Pädagogik, Lebensende und Lebensanfang, Medizin, Soziales etc. befasst, um relevante Themen noch spezifischer und mit größerer Kontinuität anzubieten. So würden kleine Kompetenzzentren entstehen und Interessierte hätten alle zwei Jahre die Möglichkeit, ihr Wissen zu vertiefen. Die Erkenntnisse könnten gesammelt, schriftlich zusammengefasst und damit für alle zugänglich gemacht werden.

Wenn wir Strukturen dieser Art rund um die gewünschten Inhalte bilden, würden Biographiearbeiter gezielt spezifische Kompetenzen, einen sichereren Stand und ein umfassenderes Problembewusstsein erwerben und gleichzeitig in Kontakt kommen mit diversen anderen Berufsgruppen, die bisher nichts mit Biographiearbeit zu tun hatten. Sie würden die Biographiearbeiter dann als Kollegen und Brückenbauer erleben, die ihr Aufgabenfeld kennen und ihre Sprache sprechen.

Prävention als Königsweg der Medizin

In unserer schulärztlichen Arbeitsgruppe gilt Prävention als der Königsweg der Medizin. Deswegen berührte es mich sehr, als wir gestern die ersten Zeilen des Spruches hörten, den Rudolf Steiner den Jungmedizinern gab für die Zusammenarbeit mit den Lehrern.3 Wenn es damals schon Biographiearbeiter gegeben hätte, hätte Rudolf Steiner auch sie aufgefordert mit den beiden genannten Berufsgruppen zusammenzuarbeiten. Denn alle suchen mit dem Patienten gemeinsam einen Weg zur Heilung.

Erziehung geht beim Erwachsenen über in Selbsterziehung und so kann jeder Mensch sich in Richtung „vollendetes Menschsein“ weiterentwickeln. Wir alle tragen den Samen dafür in unserem Herzen. In der Biographiearbeit schauen wir auf den Weg zu diesem Endziel unter der folgenden Fragestellung:

Was kann mein Leben zur allumfassenden Reise zum vollendeten Menschsein beitragen?

Schauen wir aus der Perspektive von Prävention und Heilung auf egal welches Leben, erkennen wir, dass jeder sich auf diesem Weg befindet – vorausgesetzt, er erkennt, zu welchen Schritten die individuellen Herausforderungen seines Weges anregen. Das herauszufinden erfordert oft viel Arbeit. Wir können Menschen bis zu dem Punkt begleiten, an dem es ihnen gelingt, zu sich selbst zu sagen:

  • Das ist mein Weg.
  • Ich bin der Weg.
  • Ich bin das Ergebnis wahrer Selbsterkenntnis.
  • Ich bin die Wahrheit.
  • Das ist mein Leben, mein Erwachen im Geiste: ICH BIN das Leben, mein Leben.

Wenn Menschen soweit gekommen sind, können wir ihnen Begleiter sein auf dem christlichen Weg: Denn jede Biographie, jedes Leben will ein Stück des Weges sein hin zum Endziel der Menschheit, zum Menschen-Ich, für das wir den Namen des Christus verwenden, weil er diesen Pfad in klare Worte und Gedanken fasste: „Ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, ich bin das Leben.“4 Sinngemäß sagte er weiter: „Wenn ihr auf euer Ich BIN achtet, könnt ihr dasselbe über euch sagen.“ Damit spricht er über primäre Prävention.

Heilung über Ätherleib und Ich

Es gibt zwei Ebenen für Heilung im Menschen:

  • Den Ätherleib

Auf der ätherischen Ebene können wir viel tun: über Prävention aufklären, Ratschläge geben in Bezug auf Erziehung, rhythmisches Leben, die richtige Lebensführung, gesunde Nahrung und vieles andere, was den Ätherleib stärkt.

  • Das Ich

Das Ich ist dagegen unberührbar und kann nicht von außen beeinflusst werden. Wenn jemand nicht aus eigenem Willen heraus geheilt werden möchte, können wir nichts tun. Der innere Heiler im Menschen muss von ihm selbst geweckt werden. Wir können nur Geburtshelfer sein in diesem Prozess – und wir geben dabei natürlich unser Bestes. Wir können Menschen jedoch unterstützen, wenn sie sich selbst um Prävention und Heilung bemühen. Das ist der Hintergrund, aus dem heraus wir zu ihnen sprechen. Es ist unser echtes Anliegen, Menschen dabei zu helfen.

Aus den Tiefen bitten lernen

Ich möchte jetzt noch Bezug nehmen zum Grundsteinspruch5 (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Der Grundsteinspruch), den wir gestern hörten. Im dritten Teil des Aufrufs an die menschliche Seele wird gesagt, dass die 3. Hierarchie, also Archai, Archangeloi und Angeloim (vgl. Engel: Engel, Erzengel und Archai), aus den Tiefen angerufen werden sollen. Im Deutschen heißt es, wir sollen bitten – was nicht das Gleiche wie beten ist –, sondern die Bedeutung von erbeten, fragen, sich wünschen hat. Wir sollen um etwas bitten, das in den Höhen gehört werden kann. Und aus den Höhen kommt sinngemäß die Antwort: „Du brauchst den Heiligen Geist und er wird Dich erwecken und heilen.“ Wir sollen den Menschen dabei unterstützen, die richtigen Fragen zu stellen und um Dinge zu bitten, die in den Höhen erhört werden können und Heilung durch die Begegnung mit dem Heiligen Geist ermöglichen.

„Aus den Tiefen bitten“ zu lernen, bedeutet also, um die richtigen Gedanken, Gefühle und eine dienstbereite Haltung zu bitten, damit die 3. Hierarchie „in den Höhen“ sie hören kann, damit unsere Konflikte und Kämpfe im Sozialen auf unserer Reise durchs Leben Heilung erfahren können und wir dadurch heilsam auf den Zeitgeist einwirken können (vgl. Engel: Engel und das Wirken von Gedanken Worten und Taten). Wir sind dann auf allen Ebenen in Kontakt mit dem Heiligen Geist. Das ist Biographiearbeit im eigentlichen Sinn.

Weitere Spezifikation anstreben

Ich möchte Sie deshalb ermutigen, sich näher mit dem Inhalt dieser Passage des Grundsteinspruches6 auseinanderzusetzen, um herauszufinden, wie Sie das in ihrer Praxis als Tool einsetzen können, abhängig davon, wo jeder einzelne von Ihnen im Berufsleben steht: ob Ihr Klientel mehr aus Eltern oder Lehrern besteht, ob Sie ganz unterschiedliche Klienten haben, ob Sie eine mehr beratende Funktion haben, ob Sie in einem Gefängnis arbeiten, ob sie mehr psychotherapeutisch oder mehr kunsttherapeutisch arbeiten.

Den medizinischen Berufen rate ich immer, sich zusätzlich in Biographiearbeit auszubilden, um sich wichtiges Hintergrundwissen anzueignen, das dafür nötig ist. Wer das nicht tut, kann keine wirkliche Anamnese erstellen.

Entsprechendes gilt für die Biographiearbeit. Inhalt und Form der heutigen Ansätze halte ich bereits für sehr gut. Sie könnten aber in der Anwendung noch zusätzliche Werkzeuge entwickeln, sich also noch mehr spezifizieren. Jetzt, wo Sie als Berufsgruppe aufgrund langjähriger Auseinandersetzung mit den Inhalten der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion vertraut sind, könnte die Zeit reif sein, die Inhalte der anderen Sektionen in die Biographiearbeit miteinzuschließen auf der Basis der geschilderten Zusammenarbeit.

Vgl. Vortrag an der Tagung „International Conference Biographywork", England 2013

  1. * 2. September 1905 in Medan, Sumatra, † 12. Dezember 1992 in Zeist; war ein niederländischer Arzt, Sozialökonom und Anthroposoph.
  2. *14. Dezember 1929 in São Paulo, bereits verstorben, studierte Medizin und Anthroposophische Medizin, lernte durch Hellmuth J. ten Siethoff die Biographiearbeit kennen, leitete bis ins hohe Alter zahlreiche Biographieseminare, baute eine Ausbildung für Biographiearbeit auf und schrieb viele Bücher über Biographiearbeit.
  3. Es war in alten Zeiten,
    da lebte in der Eingeweihten Seelen
    kraftvoll der Gedanke,
    dass krank von Natur
    ein jeglicher Mensch sei.
    Und Erziehen ward angesehen
    gleich dem Heilprozess,
    der dem Kinde mit dem Reifen
    die Gesundheit zugleich erbrachte
    für des Lebens vollendetes Menschsein.

  4. Neues Testament, Johannes 14,6.
  5. Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.
  6. Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, 12. Vortrag, GA 317, Dornach 1924.
  7. Denn es waltet der Vater-Geist der Höhen
    In den Weltentiefen Sein erzeugend:
    Ihr Kräfte-Geister
    Lasset aus den Höhen erklingen,
    Was in den Tiefen das Echo findet;
    Dieses spricht:
    Aus dem Göttlichen weset die Menschheit.
    Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:
    Menschen mögen es hören.