Selbstbewusst über die Todesschwelle
Wie kann man ein ewiges stabiles Ich- und Selbstbewusstsein erringen, dass einen sogar durch die Todespforte tragen kann?
Seelentod durch Materialismus
In der Apokalypse des Johannes heißt es sinngemäß „Fürchtet nicht den Tod des Leibes, sondern den Seelentod“,1 das heißt den Bewusstseinstod. Mit Bewusstseinstod ist gemeint, sich nach dem Tod des Leibes nicht bewusst in der nachtodlichen Welt halten zu können. Man ist zwar „da“, aber weiß nichts von sich. Das ist eine der Schattenseiten des Materialismus, die bewirkt, dass sich das Bewusstsein nicht vom sinnlich Gegebenen lösen kann und dadurch auch mit dem Tode erlischt. Dieser Umstand wird im Evangelium und in der esoterischen Literatur als „zweiter Tod“ bezeichnet (vgl. Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein über den Tod hinaus).
Den ersten Tod stirbt jeder Mensch, indem er seinen Körper ablegt.
Den zweiten Tod des Bewusstseinsverlustes nach Ablegen des Körpers erleiden diejenigen, die sich nicht für ihr leibunabhängiges, rein geistiges Leben interessiert haben.
Umso größer ist dann die Sehnsucht, sich möglichst rasch wieder zu verkörpern, um das Versäumte nachzuholen und zu Lebzeiten ein Bewusstsein des eigenen geistigen Wesens zu entwickeln, ja es aus sich selbst zu gebären. Das ist einer der Gründe für das starke Bevölkerungswachstum.
Notwendigkeit von Wiederverkörperung
Wenn man einmal wirklich begriffen hat, wie unvollendet der Mensch tatsächlich ist, wie weit entfernt vom Ziel der Menschheitsentwicklung, und wie wenig wir in einem Erdenleben Mensch werden können, erkennt man, dass die Wiederverkörperung eine Notwendigkeit ist (vgl. Entwicklung: Entwicklungsgedanke und Wiederverkörperung). Und dann braucht jeder seine eigene Zeitspanne, bis er sich selbst zum vollendeten Menschsein entwickelt hat. Von konfessionell-christlicher Seite wird öfters eingewendet, dass in den Evangelien doch keine Rede von Reinkarnation sei. Doch macht die Zukunftsorientiertheit des Idealismus nur Sinn, wenn dem Menschen auch die Zeit gegeben wird, seine Ideale zu erreichen.
Wie sollen ein Kind, das früh verstirbt, oder ein Erwachsener, der delinquent geworden ist, den Weg zur Wahrheit gehen, die frei macht, wenn ihnen ihr aktuelles Leben gar nicht die Chance dazu geboten hat?
Auch lesen wir im neunten Kapitel des Markusevangeliums, dass die Jünger Jesus nach der Verklärung auf dem Berg fragten, warum die Schriftgelehrten sagen, dass Elias wiederkommen müsse, bevor der Messias erscheinen könne. Er antwortete: „Aber ich sage euch: Elias ist bereits gekommen, und die Menschen haben ihre Willkür an ihm ausgelassen, wie es die Schrift von ihm sagt“.2 Im Matthäus Evangelium wird noch ergänzt „da verstanden die Jünger, dass er von Johannes dem Täufer zu ihnen sprach“.3
Die Bedeutsamkeit von Entwicklung
So dezent die Lehre von Wiederverkörperung und Schicksal in den Evangelien auch aufscheint, so deutlich wird in den Evangelien der Wert des einzelnen Erdenlebens betont. Es gilt die Zeit für die individuelle Entwicklung zu nutzen. Ist es doch gerade der individuelle Schicksalsweg, durch den sich die Menschen unterscheiden. Nicht Erbgut und Milieu verdanken wir unsere ureigene Individualität, sondern dem ureigenen Schicksalsgang durch die wiederholten Erdenleben hindurch, der uns zu diesem unverwechselbaren Menschen werden lässt.
Im Unterschied zu den Tieren und Pflanzen, die von Anfang an wissen, wie sie sich zu entwickeln haben, sind wir Menschen von der Schöpferseite her unvollendet gelassen worden. Wir haben nur die Veranlagung dazu, eigenständige, reife Menschen zu werden, wir werden nicht so geboren. Wir müssen die veranlagte Menschlichkeit eigenständig weiterentwickeln im Laufe unseres Lebens. Das muss jeder Mensch auf seine Art und Weise selbst vornehmen. Auch wenn wir uns gegenseitig dabei helfen können, muss und darf jeder Mensch lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und den eigenen Weg zu gehen.
Hilfe zur Selbsthilfe geben
Daher ist es auch so wichtig, dass unsere Klient:innen nicht von uns abhängig werden in der biografischen Arbeit und Beratung. Es muss bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins als geistiges Wesen immer um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Wir können auf den Weg der Entwicklung hinwiesen, gehen muss ihn jeder selbst.
In seiner Philosophie der Freiheit findet Rudolf Steiner wunderbare Worte, um die biografische Aufgabe des Menschen von Erdenleben zu Erdenleben zu beschreiben: „Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben.“4
Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021
- Neues Testament, Apokalypse 2:11, 14:13, 20:6.
- Neues Testament, Markus 9, 13.
- Ebenda, Math. 17, 13.
- Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, S. 170.