Verzicht als Entwicklungsmotiv in der Biografie

Welche Bedeutung hat Verzicht für unsere Entwicklung?

Inwiefern ist er ein Geschenk an die Zukunft?

Verzichten lernen befreit

Verzicht ist ein sehr wichtiger Bestandteil von Entwicklung, das wurde mir schon als junger Mensch klar. Wenn ich z.B. etwas in der Hand halte, um es zu konsumieren, ist meine Hand belegt. Wenn ich darauf verzichte, ist meine Hand frei für welche Tätigkeit auch immer. Jeder Verzicht bedeutet einen Freiheitsgrad für etwas anderes, für mehr Selbstbestimmung. Das Heilsame, Entwicklungsfördernde hängt von der Fähigkeit, im richtigen Moment verzichten zu können, ab.

Als meine Patentante, die für mich eine wichtige Bezugsperson war, 60 wurde, erzählte sie auf ihrer Feier von ihrem morgendlichen Spaziergang auf dem Filder bei Stuttgart. Sie kam aus Berlin und sprach klares Theater- Hochdeutsch. Sie hatte sich auf eine Bank gesetzt. Nach einer Weile hatte sich eine ältere Bauersfrau neben sie gesetzt und sie gefragt, warum meine Patentante dort sitzen würde. Sie erzählte von ihrem Geburtstag, woraufhin die alte Frau, wie eine Botin des Himmels auf gut Schwäbisch sagte: „Na wünsch i Ihne, dass se des Entsage schaffe.“ Auf Hochdeutsch: „Dann wünsche ich Ihnen, dass Sie lernen zu entsagen.“ Zu verzichten.

Das war für meine Patentante das größte Geburtstagsgeschenk, ein neues biografisches Motiv, eine gratis Biografie-Beratung in wenigen Minuten. Sie lebte im nächsten Jahrzehnt mit der Frage, welche Rolle der Verzicht in ihrer Biografie spielt.

Verzicht als Geschenk an die Zukunft

Eine Form des Verzichts besteht darin, Geschenke an die Zukunft zu machen, indem man in den Begegnungen mit den jüngeren Generationen deren Wohlergehen und Freude im Auge hat und nicht primär das eigene. Da ich selbst keine Kinder habe, denke ich diesbezüglich an meine Mutter und welches Geschenk sie uns Kindern machte.

Wir waren sehr arm. Mein Vater war Journalist, der den Krieg als Kriegsberichterstatter an vorderster Front überlebte. Danach fasste er den Entschluss etwas tief Sinnvolles zu machen und er wurde Waldorfschullehrer. Meine Mutter hatte vor dem Krieg für ein paar Jahre die erste Waldorfschule in Stuttgart besucht. Die Gehälter waren so klein, dass das Geld bereits in der Monatsmitte aufgebraucht war.

Ich sage das deshalb, weil meine Mutter als promovierte Chemikerin, die auch Atomphysik studiert hatte und sehr klug war, selbst sehr gerne arbeiten gegangen wäre. Sie hätte interessante Jobs annehmen können, verzichtete aber lieber darauf zugunsten der Kindererziehung, solange die Kinder klein waren. Sie war lieber arm, dafür als Mensch präsent und hat so für ihre fünf Kinder alles allein gestemmt, ohne Putzfrau und Haushaltsgeräte. Die Wäsche wurde 1x die Woche am Waschtag in der Waschküche gekocht. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Rückblickend erkenne ich, dass das ein immenser Verzicht war – was wir als Kinder damals nicht so wahrgenommen haben.

Lieber anwesend als wohlhabend

Als wir dann alle in der Schule waren und unsere Mutter um des Zuverdienstes willen eine Stelle bei der Post als technische Zeichnerin annahm, merkten wir, wie sich das anfühlte, wenn man Mittags beim Heimkommen nicht begrüßt wurde und nichts auf dem Herd köchelte, nichts vorbereitet war. Das war nach dem Schulvormittag eine große Herausforderung für uns. Nach ein paar Wochen hielten wir Schwesternrat und sagten zu unserer Mutter, dass wir auf neue Kleider und tolle Ferien verzichten würden, das Einzige, was wir wollten, wäre, sie wieder zuhause zu haben. Das war für meine Mutter sehr herb, aber sie hat sich diesem Schwesternrat gebeugt.

Ich als traumatisiertes Kind verdanke dem so viel, dass ich ein warmes, von menschlicher Präsenz durchdrungenes Elternhaus hatte. Mein Vater war durch seine Aufgaben total abgezogen, weil er neben der Lehrertätigkeit noch den Verlag Freies Geistesleben mitbegründet hat und sich auch in der Anthroposophischen Gesellschaft engagierte. Aber er versuchte, wenn es irgendwie ging, zum Mittagessen nachhause zu kommen, dass wir da Vaterenergie tanken konnten, und die Ferien mit uns zu verbringen. Ansonsten hat meine Mutter die menschliche Kontinuität gehalten.

Begegnungen bewusst pflegen

Da auch mein eigenes Leben sehr von Arbeit geprägt war, würde ich rückblickend sagen, dass die lohnendsten Verzichte diejenigen waren, wenn ich meine Arbeit liegen ließ und mir die Zeit für Begegnungen mit anderen Menschen nahm. Es hat sich menschlich gelohnt, auch wenn ich dann ein paar Nachtstunden dranhängen musste.

Diese menschliche Präsenz und Begegnungskultur zu pflegen, ist heute bedingt durch die Digitalisierung eine große Herausforderung für junge Familien. Noch beim Essen ist jeder versucht, sich mit seinem Smartphone zu beschäftigen und irgendetwas zu checken. Wir müssen lernen, mit diesem menschenverachtenden Aspekt der Technik bewusst so umzugehen, dass die menschlichen Beziehungen dadurch nicht ge- und zerstört werden (vgl. Medienpädagogik: Goldene Regel für den Umgang mit Technik und Medien).

Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022