Wegweisende Kulturideale für die Biografie

Welche Bedeutung haben Ideale für das Leben?

Leitbild aus der Welt der Ideale

Wer sich entscheidet, die zweite Geburt ernst zu nehmen (vgl. Kirche und Gemeinde: Selbstbewusstsein entwickeln als Gemeinde), wird sich ein Leitbild für die eigene Entwicklung geben, quasi „von oben her“ aus der Welt menschlicher Ideale, wie sie zum Beispiel im Evangelium gelehrt werden. Dort wird gesagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“1 und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“2

Man entdeckt unschwer in diesen Worten die drei Kulturideale des menschlichen Seelenlebens (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit):

  • Wahrheit: Unser Denken und Beobachten werden umso lebenstauglicher, je wahrheitsorientierter wir mit ihnen umgehen (vgl. Denken: Wahrheit als Grundlage für Körperaufbau und Denken).

  • Liebe: Das Gefühlsleben wird umso reicher und empathisch, je mehr wir es am Erlernen der bedingungslosen Liebe ausrichten, d. h. einer Liebe um des Geliebten willen und nicht einer Liebe, in der man das Geliebte zum Genussobjekt macht.

  • Freiheit: Und schließlich das Rätsel der Freiheit – Inbegriff menschlicher Würde und zugleich abscheulicher Abgrund aller Missbrauchsmöglichkeiten von Wissen und Macht.

Fundament der Anthroposophischen Biografiearbeit

Den Weg zur Wahrheit müssen wir alleine gehen, wenn er zu Freiheit und Autonomie führen soll. In dieser Hinsicht ist das Christentum antiautoritär und revolutionär, auch wenn sich die christlichen Kirchen an diesem Punkt schwertun und auch die Gläubigen sich lieber an klaren Regeln „zum Guten“ orientieren. Das Christentum lehrt aber nur ein Gebot, die Liebe, und einen Weg, den Weg zur Freiheit durch Erkenntnis der Wahrheit (vgl. Apokalypse: Die Apokalypse als Entfaltungsgeschichte). Dieser Weg und dieses Gebot sind das Fundament der Anthroposophischen Biografiearbeit.

Auch wenn man die oben genannten drei Kernideale des Christentums nicht kennen würde, käme früher oder später jeder aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrungen dazu zu erkennen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen belastet werden durch Unehrlichkeit und Misstrauen sowie durch respektlose Grenzverletzung der Autonomie des anderen. Wohingegen jedes Bemühen um Ehrlichkeit, um echtes Interesse am anderen und um Respekt vor der Autonomie des anderen das Zusammenleben erleichtert und menschlicher macht.

Damit bieten sich diese drei Ideale geradezu an, die eigene Identität daran auszurichten. Denn Identität ist doch das, womit man sich identifiziert: Man wird zu dem, wofür man sich begeistert und was man zu realisieren versucht. D.h., wer Wahrhaftigkeit übt, wird einen ehrlichen Charakter entwickeln. Das gilt auch für die beiden anderen Lebensideale. Wer sich mit einem Ideal verbindet und sich damit identifiziert, strahlt das, wofür er sich engagiert, auch aus.

Begleitung durch Ideale

Diese Ideale können dazu inspirieren, worauf es in einer bestimmten Situation ankommt und was man dadurch vielleicht lernen oder tun kann. Man erlebt, dass sie wie gute geistige Begleiter sind, die einen innerlich tragen und beschützen können. Auch erweisen sie sich als eine unerschöpfliche Kraftquelle im Alltag. In jedem Augenblick kann man sich fragen – je nachdem was gerade ansteht:

Wie kann ich mich dieser Herausforderung stellen oder in dieser Situation reagieren, dass die menschlichen Kulturwerte Wahrheit, Liebe und Freiheit nicht beschädigt werden, sondern gedeihen?

Jeden Abend kann man den Tag Revue passieren lassen und sich fragen:

Wie war das heute?

Habe ich ein Stück Menschlichkeit realisieren können?

Oder bin ich doch wieder mal eingeknickt und habe eine Verlegenheitslüge gebraucht oder geschwiegen, wo ich etwas hätte sagen sollen?

So werden diese Ideale immer mehr zu einem innerlichen Bezugspunkt mit dem man sich identifiziert. So verwandelt man sich nach und nach zu seinem „wahren Ich“ (vgl. Ideale: Die besondere Natur der Ideale). Jeder Tag, den man in diesem Bewusstsein leben darf, ist wichtig und ein Schritt auf dem Weg, ein möglichst starkes leibunabhängiges Ich-Bewusstsein zu entwickeln, das man mit über die Todesschwelle nehmen kann (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit).

Wie und warum man findet

Picasso sagte in einem Gedicht: „Ich suche nicht, ich finde.“ Wenn man ständig auf der Suche ist, findet man nicht. Wenn man finden will, sucht man anders. Picasso fragte:

Ist das, wonach ich mich sehne, nicht bereits das Ziel?

Entsteht diese Sehnsucht nur dadurch, dass ich im Grunde weiß, wonach ich suche?

Wir suchen unser wahres Ich, sehnen uns nach mehr Menschlichkeit und einer besseren Welt. Alle unsere Sehnsüchte, unsere Hoffnungen und Ideale sind reines „Zukunftsmaterial“. Wir suchen danach, weil wir genau wissen, was wir finden wollen. So wie es Christian Morgenstern ausdrückt in einem Gedicht: „Wer vom Ziel nichts weiß, kann den Weg nicht haben, wird im selben Kreis all sein Leben traben. Kommt am Ende hin, wo er hergerückt, hat der Menge Sinne nur noch mehr zerstückt.“ 3 Oder wie man es im Zen-Buddhismus sagt: „Der Weg ist das Ziel“ . Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass wir im Grunde wissen, worauf wir hinauswollen.

Jede menschliche Biografie ist ein Weg, DER Weg für das Individuum, und das Ziel ist klar darin veranlagt. Das ist der Grund, weshalb wir Sehnsucht nach einem guten, schönen, menschenwürdigen, wahrhaftigen Leben haben und warum wir uns traurig und verzweifelt fühlen, wenn wir uns von diesem Ideal entfernen. Wir haben in uns den Maßstab, worauf es in unserem Leben ankommt. Dieser Maßstab soll durch Biografiearbeit bewusstgemacht und freigelegt werden.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021

  1. Neues Testament, Johannes 8:32.
  2. Ebenda, Lukas 10:27.
  3. Christian Morgenstern (1871-1914), Wer vom Ziel nichts weiß, Gedicht entstanden 1914 in München.