Zufall und Schicksal

Wer oder was formt den menschlichen Charakter?

Warum sind trotz aller vererbten Familienähnlichkeit und identischem Milieu gerade Geschwister im Charakter so verschieden?

Gleiche Familie – anderes Schicksal

Wenn man nur Vererbung und Milieu in Betracht zieht, bleibt ungeklärt, wodurch Geschwister und sogar Zwillinge so unterschiedliche Biographien haben (vgl. Begabung und Behinderung: Wer spielt das Klavier der Gene?). Nicht zuletzt haben dies der bekannte amerikanische Verhaltensgenetiker Robert Plomin und die britische Verhaltenspsychologin Judy Dunn in ihrem gemeinsam geschriebenen Buch „Warum Geschwister so verschieden sind“ eindrucksvoll zeigen können.1 Geschwister haben ja als Verwandte ersten Grades überwiegend gemeinsames Erbgut und sie wachsen in der Regel auch im selben Milieu auf. Es muss noch weitere entscheidende Faktoren geben, die diese Unterschiede bewirken.

Welche aber sind das?

Woher kommen diese Einflussfaktoren, die das individuelle Schicksal entscheidend prägen?

Geschehen sie zufällig?

Und wenn ja: Was verbirgt sich in dem Wort „Zufall?

Anhand ihrer Forschungen schlussfolgern Plomin und Dunn: „In der Forschung zu den Auswirkungen kritischer Lebensereignisse ist es ein wohl bekanntes Problem, dass die Auswirkungen eines solchen Ereignisses nicht unabhängig von der Persönlichkeit – der „Verletzlichkeit“ – der betroffenen Person sind. (…) Der wesentliche Punkt ist hier, dass zwei Kinder innerhalb derselben Familie normalerweise ein unterschiedliches Maß an Stress erleben werden. Stressverursachende Ereignisse können einen kumulativen, sich selbst verstärkenden Effekt haben, und das Erleben einer Reihe solcher Ereignisse kann eine Person sehr wohl zunehmend verletzlich machen, und anfälliger dafür, dass zukünftige Ereignisse sich noch stärker negativ auswirken. Ausgehend von anfänglichen Persönlichkeitsunterschieden können sich also ganz unterschiedliche „Leidenswege“ der Belastung durch „zufällige“ Ereignisse entwickeln. (…) Der Begriff des unkontrollierbaren Ereignisses entspricht weitgehend dem, was wir Zufall nennen (S. 167ff).“

Zufall ist nichts Zufälliges

Bei diesen Ausführungen taucht neben dem Begriff „Zufall“ auch der der „Person“ auf, die zum Beispiel durch den Grad ihrer Verletzlichkeit anfällig für negative Entwicklungen ist.

Was macht die Person aus?

Ist sie selbst auch ein Zufallsprodukt, von mehr oder weniger kontrollierbaren Schicksalsereignissen geprägt und bestimmt?

Aus Sicht der Naturwissenschaft mag das so scheinen. Zufall aus anthroposophisch-geisteswissenschaftlicher Sicht bedeutet, dass einem etwas zufällt. Diese Wortbedeutung eröffnet eine andere Perspektive auf das Schicksal als die naturwissenschaftliche, verdeutlicht durch folgende Fragen:

Von woher fällt einem etwas zu und zu welchem Ziel?

Warum trifft es ausgerechnet mich im Hier und Jetzt?

Rudolf Steiner bietet hierzu eine interessante Arbeitshypothese als Antwort: Der Mensch selbst ist es, der sich diesen Zufall in einem früheren Erdenleben wie zubereitet hat. Er selbst entschied, dass ihn dieses oder jenes Ereignis treffen soll: Jemandem fällt dasjenige zu, was zu ihm gehört. Es will ihn etwas lehren, was er aus sich heraus ohne diesen „Zufall“ nicht in Angriff genommen hätte.

Fragen und Überlegungen dieser Art helfen, den nicht kontrollierbaren und kausal nicht erklärbaren Zufall als zum individuellen Schicksal gehörig zu erkennen, der alles andere als zufällig ist, sondern den Gesetzmäßigkeiten der Wiederverkörperung folgt. Daraus ergibt sich ein völlig neuer Schicksalsbegriff.

Rudolf Steiners Schicksalsbegriff

In seinem Buch Theosophie2 knüpft Rudolf Steiner an den indischen Karma-Begriff an, der besagt, dass man in einem nächsten Leben den Folgen seiner Taten eines früheren Lebens begegnet. Aus dieser Perspektive steht der Mensch dem, was ihm „zufällt“ bzw. „geschickt wird“, weder hilflos noch schuldlos gegenüber. Steiner sagt dazu: „Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. Und der Geist steht unter dem Gesetze der Wiederverkörperung.“3

Schaut man so auf sein Leben, kann man erkennen, dass kein Ereignis zufällig geschieht. Es ist vielmehr eine gerechte Konsequenz der Lebensführung und Taten in einem vergangenen Erdenleben, im Positiven wie im Negativen (vgl. Schicksal und Karma: Urteilsfähigkeit in Schicksalsfragen). Wer das als Wahrheit erkennt und die Schicksalsbegegnungen seines Lebens mit allen Höhen und Tiefen in diesem Licht sieht, wird sich weder hilflos, noch bestraft oder schuldig fühlen. Man erkennt sich als Verursacher dieser wie zufällig erscheinenden Ereignisse und wird sich fragen:

Was kann ich daraus lernen?

Wie kann ich daran wachsen und mich weiterentwickeln?

Was kann ich jetzt tun, damit daraus etwas Positives für die Zukunft erwachsen kann?

Aus diesem Blickwinkel erkennt man den Sinn darin, dass ein bestimmtes Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt und nicht später oder früher; so wie der nächste Tag beeinflusst wird durch das, was am Vortag geschah, so gestaltet sich das aktuelle Erdenleben als Folge ein früheren. Ein solches Schicksalsverständnis ermöglicht die Identifikation mit dem eigenen Schicksal als einem Teil von sich selbst. Schicksal wird als „Schule des Lebens“ begriffen. Jetzt fragt man folgerichtig:

Welche Fähigkeit muss ich entwickeln, um z. B. angesichts eines schweren Schicksalsschlags standzuhalten und nicht aufzugeben?

Vielleicht brauche ich gerade diese Fähigkeit für ein künftiges Erdenleben, um zu realisieren, was ich mir vorgenommen habe?

Victor Frankl hat nach den menschenverachtenden Erlebnissen im Konzentrationslager ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Das konnte er nur, weil er die Nähe einer höheren Gerechtigkeit spürte, die ihm Geborgenheit schenkte. Wer diese Schicksalsgerechtigkeit auch in schweren Momenten ahnen kann und für die vielen Glücksmomente zu danken vermag, die das Leben als Ganzes bereithält, wird die eigene Biografie als lebenswert und von guten Mächten geleitet und begleitet empfinden. Sie ist für ihn nichts Zufälliges mehr, sondern ein weisheitsvoll gestalteter Entwicklungsraum (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal).

Karma als Weg zur Ich-Erkenntnis

Wer in seinem 40. Lebensjahr sein Leben betrachtet mit der Frage nach dem dort wirkenden Seelenwesen wird erkennen, dass das, was ihm oder ihr schicksalsmäßig „zugestoßen“ ist, sie oder ihn zu dem gemacht hat, was er oder sie heute ist. Wäre zum Beispiel mit 20 Jahren eine bestimmte Reihe von Ereignissen nicht eingetreten, wäre das Leben anders verlaufen. Daran kann man erkennen, dass das „Ich“ nicht nur von „innen“ heraus Entwicklungsimpulsen gibt, sondern dass es auch wie „von außen“ gestaltend in das Leben eingreift. Durch das, was geschieht, kann man das eigene Ich in seinem Wirken erkennen.

In einem weiteren Schritt eingehender Beobachtung des eigenen Lebens kann man üben, in dem, was einem durch die Schicksalserlebnisse zufließt, eine vom Ich bewirkte, von außen kommende „Erinnerung“ zu erkennen, durch die ein vergangenes Erlebnis aufleuchten kann. Auf diesem Wege kann man lernen, in dem Schicksalserlebnis, die Auswirkung einer früheren Tat der Seele zu sehen, die jetzt den Weg zum Ich nimmt, so wie die Erinnerung an ein früheres Erlebnis den Weg zur Vorstellung nimmt, wenn eine äußere Veranlassung dazu da ist.4

Steiners Schicksalsbegriff betrifft jedoch nicht nur das persönliche Karma, sondern auch das Gruppenschicksal einer Familie, eines Volkes oder einer Religionsgemeinschaft, zu der man gehört. Viele junge Menschen identifizieren sich zunehmend mit Schicksal und Entwicklung der Menschheit durch die Jahrtausende. Die Identifikation mit der Menschheitsentwicklung eröffnet dem Bewusstsein Lernprozesse und Aufwachmomente, welche die Grenzen des Persönlichen weit übersteigen. Sie führen in Erlebnisdimensionen, wie sie in Werken wie Viktor Frankl’s „Trotzdem Ja zu Leben sagen“ oder Novalis` „Heinrich von Ofterdingen“ und Goethes „Faust“ zum Ausdruck kommen. Diese zeitenübergreifenden Dimensionen spielen in der Biographiearbeit zunehmend eine zentrale Rolle, weil immer mehr Menschen mit der Zeit, in der sie leben, nicht zurechtkommen.

Vergängliche Persönlichkeit und ewiges Ich

Unter diesem viele Leben und Zeiträume umspannenden Schicksalsaspekt lässt sich die Frage nach der Person ganz neu stellen. Wenn der menschliche Wesenskern, sein Ich, durch wiederholte Erdenleben geht und damit auch verschiedene Hautfarben annimmt, sich in unterschiedlichen Erdgegenden beheimatet, Sprach- und Religionszusammenhänge wechselt, folgt daraus, dass sich die Persönlichkeit aus den jeweiligen Schicksalsgegebenheiten heraus jedes Mal neu formt. Die Person ist somit die jeweilige Persönlichkeit, durch die dasselbe Ich im Sinne des Wortes „Per-sonare“ „hindurch-tönt“. In jeder Verkörperung lernt sich dieses Ich durch die Erfahrungen der jeweiligen Person anders und immer intimer kennen (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Von Erdenleben zu Erdenleben reifen Selbsterkenntnis und Umweltverständnis.5

Durch die Möglichkeit, vergangenes Schicksal aktiv und erkenntnisreich zu verarbeiten und dadurch Positives für die Zukunft zu veranlagen, verliert der Schicksalsbegriff seinen fatalistisch-deterministischen Charakter (vgl. Begabung und Behinderung: Zum Verständnis von Krankheit und Behinderung). Der Schluss liegt nahe, dass das bereits vorgeburtlich existierende Menschenwesen selbst bei der Auswahl der für seine neue Verkörperung wichtigen genetischen Grundausstattung mitwirkt wie auch bei der Wahl seiner Eltern und der Umweltfaktoren, die sein Schicksal bestimmen. Das durch alle Leben hindurchwirkende ewige Selbst von den persönlichen Manifestationen in den jeweiligen Biografien unterscheiden zu lernen, kann zu einer tiefen inneren Ruhe führen und zur Kraftquelle werden im Auf und Ab des täglichen Lebens.

Wie kommt man vom Wissen um solche Zusammenhänge zur konkreten Erfahrung?

Und wie lassen sich katastrophale Ereignisse wie der Holocaust verstehen, die in ihrer destruktiven Gewalt die Dimension eines einzelnen Menschenlebens und Schicksals bei weitem übersteigen, die unfassbar grausam und doch menschengemacht sind?

In den menschlichen Taten lebt sich aus, was in ihnen, aber auch in Menschengemeinschaften an Liebe und Hass, an Verständnis und Unverständnis an Engagement oder Gleichgültigkeit lebt. Und wenn die Menschen sterben, leben doch die Wirkungen ihrer Taten fort. Sich davon komplett zu distanzieren, ist ebenso verantwortungslos, wie solche Wirkungen dem Zufall zuzuschreiben.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. Und 14. März 2020

  1. Judy Dunn und Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, Verlag Klett-Cotta, 1996.
  2. Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, Dornach 1990, GA 9.
  3. Ebenda, Seite 89.
  4. Siehe FN 1, S. 83 in der Taschenbuchausgabe.
  5. Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung. Praktische Hinweise für Erziehungs- und Schicksalsfragen, Verlag Freies Geistesleben, 2004.