Fragen an den gesunden Menschenverstand

An welche Instanz kann appelliert werden angesichts der widersprüchlichen Meinungen und Informationen, die die Flut der täglichen Nachrichten aus Medien und Internet präsentieren?

Ist der sogenannte gesunde Menschenverstand in dieser Lage zur Ohnmacht verdammt?

Sind wir zur Abhängigkeit von den jeweils neusten Erkenntnissen der Wissenschaft und ihren Widersprüchlichkeiten verdammt?

Es betrifft uns alle

„Diese Pandemie verletzt Interessen, berührt Biographien, gefährdet Existenzen. Es gibt in diesen Tagen keine unschuldigen Beschlüsse“

– so Gabor Steingart in seinem Morgenbriefing vom 19.11.20. Das war am Tag nach der Verabschiedung der 3. Novelle des Infektionsschutzgesetzes der Bundesregierung mit 415 Ja-Stimmen, 236 Nein-Stimmen und 8 Enthaltungen, die die Grund- und Freiheitsrechte des Einzelnen gravierend einschränken. Ungezählte Existenzen sind gefährdet, internatio-nal nehmen Hunger und Armut unerträgliche Ausmaße an, die Flüchtlingskrise verschärft sich weiter, Angst und Aggression sind allgegenwärtig. Täglich hören wir aus den Medien von den neuen Ansteckungszahlen und der Gefahr, dass, selbst wenn genügend Intensiv-betten da sind, unter Umständen die Pflegekräfte fehlen, die für die Betreuung nötig sind.

Die Gesellschaft polarisiert sich zunehmend bis in Familien, Kollegien und Arbeitszu-sammenhänge hinein. Gespräche zwischen „Panikmachern“ und „Covidioten“ sind kaum möglich, da letztere immer öfter als Rechtsradikale oder Verschwörungstheoretiker darge-stellt werden. Dabei möchte der Großteil nur verstehen, was passiert und unterschiedli-che Gesichtspunkte miteinander austauschen.

Was wir uns alle fragen sollten

Wie kann hier eine Vermittlung gelingen?

Wo stehe ich denn selbst?

Wie kann ich meine eigene Urteilsfähigkeit nicht nur bewahren, sondern weiter ausbilden angesichts der medialen Verlautbarungen und manch kritischer Stimme aus dem Kreis en-gagierter Mediziner und Zeitgenossen, die es wagen, sich gegenläufig zu äußern?

Was sagt meine Gewissensstimme dazu?

Wie gewinne ich meinen Lebensoptimismus, mein Selbstvertrauen zurück?

Wo sind die Quellen des Mutes, der seelischen Gesundheit und der Zuversicht verortet?

Wie kann ich meine Gesundheitspotenziale entfalten und konstruktiv an den komplexen Folgeerscheinungen der Pandemie mitarbeiten?

Immer mehr Menschen fragen sich, wie die Menschheit all dieser Bedrohungen Herr wer-den kann, und wie sie wohl in zehn Jahren leben werden:

Etwa in einem globalen Überwachungsstaat, in dem man Sicherheit mehr schätzt als das Risiko eines Lebens in Freiheit?

Werden wir es schaffen, die modernen Technologien in den Dienst kultureller Weiterent-wicklung zu stellen oder werden wir uns zunehmend in Abhängigkeit von diesen Technolo-gien befinden?

In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. November 2020 sagte der Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa: „Der Grat zwischen vernünftigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und Macht-anmaßungen der Politik ist naturgemäß sehr schmal … Und wenn wir die Freiheit verlieren, verlieren wir auf die Dauer alles. Ohne sie ist alles nichts.“

Was sagt unser Herz zu alldem, welche Botschaft hat unsere Gewissensstimme?

Und gibt es überhaupt so etwas wie gesunden Menschenverstand?

Gibt es auch einen „medizinischen“ gesunden Menschenverstand?

Was zeichnet gesunden Menschenverstand aus?

Woran erkennt man und wie schult man gesunden Menschenverstand?

Gedankenfreiheit nützen lernen

Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich etwas ausholen: Wenn ich etwas nur denke, bin ich vollkommen frei, weil ich diesen Gedanken jederzeit wieder verwerfen kann. Bevor ich einen neuen Gedanken jedoch verwerfe, denke ich ihn durch, setze ihn in Beziehung zu mir bekannten Einsichten und Lebenserfahrungen und prüfe, ob er für mich Sinn macht und daher innerlich evident ist, ob er mein bisheriges Wissen ergänzt und be-reichert. Erst dann entscheide ich, ob ich diesen Gedanken weiterverfolge oder nicht.

Dieses Prüfverfahren der inneren Evidenz mithilfe des eigenen Denkens und Be-obachtens hat der naturwissenschaftlichen Forschung gegenüber einen Vorzug: Man braucht keine großen Summen an Geld, wie es für die Vorbereitung, Planung und Durch-führung einer Studie der Fall ist, muss auch nicht lange warten, bis sich erste Ergebnisse zeigen, sondern kann – wenn einem ein guter Gedanke einleuchtet – unmittelbar danach handeln und beobachten, ob er sich bewährt. Dann zeigt die Lebensrealität, ob er sich als hilfreich und stimmig erweist oder nicht. D h. man steht mit selbständigem Denken im Leben und nicht im Labor. Die Instanz in uns, die uns erlaubt, wirklichkeitsgemäß zu den-ken und Dinge zu beurteilen, nennen wir gesunden Menschenverstand. Rudolf Steiner appellierte bezüglich seiner geistigen Einsichten und Forschungsergebnisse – der Anthro-posophie – immer wieder an den sogenannten gesunden Menschenverstand. Nicht jeder sei in der Lage, durch eigene geistige Schulung nachzuprüfen, wie stimmig seine For-schungsergebnisse sind. Jeder aber könne anhand seiner eigenen Lebenserfahrung über-prüfen, ob seine Forschungen Sinn machen oder nicht, ob sie das eigene Selbstverständ-nis und Weltbegreifen fördern oder behindern.

„Wer sie [die Ergebnisse seiner Forschung] richtig anwendet, dem werden sie sich im Leben dadurch beweisen, dass sie dieses gesund und stark machen. Er wird gerade dadurch, dass sie sich in der Praxis bewähren, ersehen, dass sie wahr sind, und dadurch muss er sie besser bewiesen finden, als durch alle ‚logischen‘ und sogenannten ‚wissenschaftlichen Gründe‘. Die geistigen Wahrheiten erkennt man am besten an ihren Früchten, nicht durch einen angeblich noch so wissenschaftlichen Beweis.“ 1

Plädoyer für den gesunden Menschenverstand

Der sogenannte gesunde Menschenverstand lebt vom Interesse an der Wahrheitsfin-dung und von der Liebe zum Leben. Denn Fakten sind das eine, Interpretationen dersel-ben und die Konsequenzen für die Lebenswirklichkeit das andere. Ein prominentes Bei-spiel ist der PCR Test. Auf ihm und seiner Aussagekraft beruht die gesamte Strategie zur Nachverfolgung von Infektionen und damit alle Konsequenzen der Lockdowns.

Zeigen aber nicht gerade die im November 2020 täglich vom Robert-Koch-Institut veröffent-lichten Infektionsdaten, dass etwa 80 % der positiv Getesteten keine Symptome entwickeln und daher nicht ansteckend sind?

Positiv Getestete müssen nur aus der Restwahrscheinlichkeit heraus, dass sie viel-leicht innerhalb von fünf Tagen nach Ansteckung doch noch Symptome entwickeln könn-ten, in Quarantäne. Da liegt doch dem gesunden Menschenverstand die Frage nahe:

Wenn 80 % der positiv Getesteten gesund sind und unter den etwa 20 %, die Symptome haben, nur wenige schwer erkranken und davon wiederum nur wenige sterben – und dies zumeist auf der Basis von Vorerkrankungen oder weil sie schon höheren Alters sind – wie groß ist dann das Risiko, dass ich selber erkranken werde?

Ist dieses Krankheitsrisiko größer oder kleiner als sonst in meinem Leben?

Der Schluss liegt nahe, dass es vielmehr die von Politik und Medien geschürte Panik ist, u.a. durch die Berichterstattung über grauenvolle Einzelfälle, die uns Angst einjagt und uns wünschen lässt, lieber auf Nummer sicher zu gehen. Deshalb ist es wichtiger denn je zu erkennen, dass die Fakten das eine sind, die Art, wie ich sie interpretiere, das andere. Eins folgt nicht zwingend aus dem anderen.

Das gilt auch für exponentielle Berechnungen. Man weiß, dass ein Säugling in 5 Mo-naten sein Geburtsgewicht verdoppelt. Es wäre aber nicht lebensgemäß, die Frage zu stel-len, wie schwer das Kind in drei Jahren sein wird. Ausrechnen kann ich das natürlich – es stimmt aber mit der Lebenswirklichkeit nicht überein. Man kann ohne Weiteres faktenba-siert und logisch denken und rechnen und dennoch angesichts der Lebenswirklichkeit falsch liegen.

Gesunder Menschenverstand entwickelt sich jedoch am Leben für das Leben. Auf ihn zurückzugreifen ist deshalb wichtiger denn je, denn er wurzelt in der Lebensrealität und betrachtet Fakten nie isoliert, sondern immer in einem Kontext – auch der eigenen Le-benserfahrungen. Gesunder Menschenverstand hilft uns den Blick für die eigne Lebensre-alität zu bewahren, im Auge zu behalten, worauf es als Mensch unter Menschen an-kommt. Dadurch entsteht innere Sicherheit, die Mut zur eigenen Sichtweise macht, selbst wenn man damit den Mainstream verlassen muss. Aus dieser Sicherheit heraus werden wir im sozialen Miteinander situativ wissen, wie wir menschlich miteinander umgehen können trotz der immer unmenschlicheren Maßnahmen.

Vgl. M. Glöckler (Hrsg.), Th. Hardtmuth, Ch. Hueck, A. Neider (Hrsg.), H. Ramm, B. Ruf, „Corona und das Rätsel der Immunität. Ermutigende Gedanken, wissenschaftliche Einsichten und soziale Ideen zur Überwindung der Corona-Krise“, 2020 Akanthos Akademie e.V., Stuttgart

  1. Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. In: Lucifer-Gnosis 1903-1908. GA 34. Rudolf Steiner Verlag, Dor-nach 1987, S. 34 f.

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