Ökologische, ökonomische und kulturelle Ursachen von Pandemien

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und den derzeitigen ökologischen und ökonomischen Verhältnissen?

COVID-19 ist Teil der ökologischen und sozialen Krise unserer Zeit, die uns gerade durch diese Pandemie deutlicher bewusst werden kann. Wir erleben uns in diesen Tagen vielfach ohnmächtig, und gleichzeitig wird die Selbsterkenntnis immer unabweisbarer, dass wir selbst die Urheber dieser Krise und damit auch die Verursacher dieser Pandemie sind, die im Rahmen der Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz des deutschen Bundestags vom Januar 2013 bereits vorhergesagt wurde, 1 ohne dass seitens der Regierung an den auslösenden Ursachen etwas verändert, ohne dass vorgesorgt wurde.

Ursachen für zunehmende Seuchengefahr

Die ökologischen Probleme unserer Zeit müssen als Hauptursache heutiger Pandemien diagnostiziert und global behandelt werden. Dazu gehört der grausame Umgang mit Wildtieren genauso wie die widernatürliche Massentierhaltung von Nutztieren.

Unter der Überschrift „Pandemien und ihre Ursachen: So züchtet der Mensch ungewollt neue Seuchen“ schrieb der Wissenschaftsjournalist und Biologe Philip Bethge am 3. April 2020 in Spiegel/Wissenschaft einen bemerkenswerten Beitrag.2 Er schreibt, dass der Ausbruch der jetzigen Pandemie kein Zufall gewesen sei. Artensterben, Naturzerstörung und Klimawandel würden seit langem das Risiko erhöhen, dass Krankheiten von Tieren auf Menschen überspringen. Besonders geeignete Wirte dafür seien Fledermäuse und Flughunde, bei denen man schon gut 3200 verschiedene Corona-Viren identifiziert hat. Wir wissen zwar nicht, wie lange es gedauert hat, bis Sars-CoV-2 der Sprung auf den Menschen gelungen ist, es handle sich dabei jedoch um klassische Mechanismen der Evolution, durch die solche Epidemien entstehen können. Der Mensch würde dabei die Hauptrolle spielen.

Hinzu kommt der überhöhte Fleischverzehr reicherer Länder. Fleischmärkte und Fleischfabriken wurden zu Hotspots. Der Mensch als Fleischkonsument ist Verursacher von Tierleid und Umweltzerstörung und, wie wir jetzt erkennen, wesentlich beteiligt an der Entstehung bzw. Übertragung neuer, gefährlicher Virusvarianten auf andere Menschen.

  • Missbrauch von Wildtieren

Wildtiere, die eng an eng in Gefangenschaft gehalten werden, unter akuter Bedrohung ihres Lebens, die in ihrer Vitalität oft stark beeinträchtigt sind, wobei es zu einer unnatürlichen Nähe verschiedener Arten kommt, z. B. von Fledermaus und Schuppentier sowie von Mensch und Wildtier überhaupt. In dieser Situation ist das Immunsystem der Tiere selbst stark beeinträchtigt. So können sich Viren in den Tieren stark vermehren, sind Doppelinfektionen und in der Folge auch die Bildung von Chimären aus zwei verschiedenen Virusspezies möglich. SARS-CoV-2 kann so entstanden sein.

Auch das zu Rodungszwecken übliche Vordringen des Menschen in früher abgeschiedene Regionen, in denen Tiere zurückgezogen lebten, kann ein Grund für den Kontakt mit Tierviren und deren Überspringen auf den Menschen sein. Diese sogenannten Zoonosen und die damit verbundene Entstehung und Ausbreitung von Pandemien nehmen aufgrund von Bevölkerungswachstum und Naturzerstörung, Artensterben und Klimawandel weltweit zu, weil die Veränderung der Lebensräume das Überschreiten der Artgrenzen bedingt und fördert. Das weiß man im Grunde seit Jahren, es wurden aber nicht die nötigen Konsequenzen aus diesem Wissen gezogen.

Eine mögliche Variante ist auch der Übergang von tierspezifischen Viren auf den Menschen und wieder zurück, wie er z.B. in diesem Frühjahr in niederländischen Pelztierfarmen an Nerzen bewiesen wurde und wovon man auch in Dänemark, Hauptproduzent von Nerzfellen, ausgehen kann. In solchen Farmen werden weltweit pro Jahr rund 100 Millionen Wildtiere nur für Pelzaccessoires und Pelzteile in engen Käfigen gehalten und nach einem Leben, an das sich Wildtiere niemals anpassen können, getötet. Diesen missbräuchlichen Umgang mit Wildtieren, der ermöglicht, dass Pelzteilchen von Nerzen und Marderhunden, aber auch Schuppen und Fleisch von Schuppentieren o. Ä. in den Handel gelangen, zu beenden ist ein unabweisbares Muss! Der weltweite Wildtierschutz stellt spätestens seit Corona eine unabdingbare Priorität dar.

  • Entwürdigende Massentierhaltung

Dazu zwei Beispiele aus dem genannten Aufsatz von Thomas Hartmuth:

„Dass die modernen Geflügelmästereien mit artgerechter Haltung wenig zu tun haben, braucht wohl nicht betont zu werden. In den letzten Jahren tauchten plötzlich mutierte Virenstämme (H5Nx) auf, die zu einem Anstieg der Sterberaten durch Vogelgrippe führten und von denen befürchtet wurde, sie könnten auf den Menschen überspringen und eine globale Seuche auslösen. Es wurden nun – aus welchen Gründen auch immer – hauptsächlich Forschungsresultate der industrienahen Institute publiziert, wonach dieses neue Virus angeblich von asiatischen Wildvögeln nach Europa importiert worden sei. Wie der US-amerikanische Evolutionsbiologe Robert Wallace (2016) von der Universität Minnesota in seinem Buch ‚Big farms make big flu‘ (‚Große Farmen machen große Grippewellen‘) stichhaltig nachwies, stammen diese neuen Erreger (Campylobacter, Nipah-Virus, Q-Fieber, Hepatitis E und verschiedene neuartige Influenza-Varianten) ausnahmslos aus der industriellen Landwirtschaft. Bei Wildvögeln konnten die mutierten Stämme nicht nachgewiesen werden. 2011 kauften die Tierzüchter in den USA 14.000 Tonnen Antibiotika. Das sind 70–80% des gesamten jährlichen Verbrauchs in den USA, also nur ein Viertel kommt in der Humanmedizin zum Einsatz. Solche Verbrauchszahlen gelten für fast alle westlichen Industrienationen. Ohne diesen massiven Antibiotikaeinsatz würde es in den Mästereien zu einem Massensterben durch Seuchen kommen.“ 3

Mit Verweis auf Prof. Christine Moissl-Eichinger, Professorin für Interaktive Mikrobiom-forschung an der Medizinischen Universität Graz, wird auf zahlreiche Untersuchungen aufmerksam gemacht, bei denen man pathogene Erreger wie zum Beispiel multiresistente Keime auf Intensivstationen nicht durch zusätzliche Bakterizide und Antibiotika eliminiert hat, sondern indem man das mikrobielle Gesamtsystem durch Zusatz von hoch diversen Bakteriengemeinschaften (Fenster öffnen, Zusatz von ‚gesunden‘ Bakterien zum Wisch-wasser) so verändert hat, dass die pathogenen Keime neutralisiert wurden“.4

Solange man Massentierhaltung und großflächige Monokulturen als zwingend für die Welternährung darstellt und deshalb dorthin der größte Teil staatlicher Subventionen fließt und Kleinbauern kaum Hilfe erfahren, werden diese weiter ihre Länder an Großunternehmer verkaufen. Es braucht eine gesunde Denkweise über die Kreisläufe des Lebens und darüber, wie in der Natur und Entwicklung alles mit allem zusammenhängt.

Gefährdung der Lebensgrundlagen durch den Menschen

Wir alle ersehnen ein Ende dieser Pandemie. Doch wir sollten uns nicht einfach nach der Welt vor dieser Pandemie sehnen, sondern gemeinsam neue Strukturen, Werte und Wege finden, die in eine andere Zukunft führen. Denn fassen wir diese Krise in ihrem ganzen Umfang ins Auge, müssen wir feststellen, dass heute das Leben der Erde als Ganzes in akuter Gefahr ist. Für die Erde aber gibt es kein Beatmungsgerät. Wir Menschen zerstören die Wälder, die Lungen der Erde und die Lebensräume der Tiere, um sie technischer Kontrolle zugunsten von ökonomischer Ausbeutung zu unterwerfen.

Die Medizin selbst war technisch noch nie so mächtig, und noch nie sind so viele Zuwendungen aus der Wirtschaft in die Medizin geflossen. Gleichzeitig zerstört die einseitige Form der Wissenschaft und des Wirtschaftens unsere Lebensgrundlagen. So gefährden pharmazeutische wie auch chemische Industrie die planetarische und dadurch auch die menschliche Gesundheit: Monokulturen sind erst durch Pestizide, die moderne Massentierhaltung ist erst durch Antibiotika möglich geworden. Genau das aber führt dazu, dass Antibiotika für die Behandlung von schwerkranken Menschen zunehmend unwirksam sind und multiresistente Bakterien um sich greifen. In wenigen Branchen ist Ökologie ein stärker gefürchtetes Reizwort als in der konventionellen Pharmazie.

COVID-19 zeigt uns die Grenzen dieser technisch und ökonomisch hochgerüsteten Medizin, die noch nicht versteht, dass die vorausblickende Förderung von Gesundheit individuell wie global andere wissenschaftliche Grundlagen, ein anderes Denken und Handeln braucht als punktuelle Feldzüge gegen ansteckende Krankheiten – wobei die meisten chronischen Krankheiten auf diese Weise gar nicht erfasst werden können.

Antibiotikum bedeutet „das gegen das Leben Gerichtete“ und wurde zum erfolgreichsten und prägendsten Medikament des 20. Jahrhunderts. Im 21. Jahrhundert brauchen wir eine probiotische, das Leben fördernde und die Gesundheit erhaltende Medizin. Die Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen lassen sich nicht trennen. Es gibt nur EINE Gesundheit (One health). So fordert diese Pandemie ein neues, weltweites Bewusstsein von Gesundheit unseres Planeten, der Planetary health, und damit einhergehend eine nachhaltige Medizin und eine ökologische Pharmazie, wollen wir nicht demnächst noch wesentlich gefährlichere Pandemien erleben. Gesundheit wird nicht durch immer stärkere Kontrolle von außen erreicht, sondern durch die Fähigkeit aller Lebewesen, selbst ein lebendiges Gleichgewicht zwischen kränkenden und heilenden Einflüssen im Sinne einer Selbstregulierung herstellen und erhalten zu können. Das gilt für Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen.

Gegenseitige Entwicklungsabhängigkeit

Natur und Mensch sind voneinander abhängig, um überhaupt diese Fähigkeit der gesundenden Selbstregulierung erwerben zu können. Das sehen wir am Beispiel der Allergieentwicklung: Zur Allergie-Prophylaxe ist ein Kontakt mit gesunden Tieren und ihrer Mikroflora nötig, während wir durch den Aufenthalt in einem Stall der Massentierhaltung gefährdet sind, multiresistente Bakterien aufzunehmen. Auch ist es inzwischen bewiesen, dass steril aufgezogene Tiere eine gestörte Gehirnentwicklung und Verhaltensstörungen aufweisen. Wir sehen: Gesundheitsentwicklung gelingt nur in einem gesunden Kontext, ist dabei gesunde Beziehungen der Spezies untereinander angewiesen. Solange es uns gleichgültig ist, dass für wirtschaftliche Zwecke das lebendige Gleichgewicht einer Landschaft zerstört wird, wenn es uns kalt lässt, dass ein Wildtier lebenslang in einem 40 x 60 cm großen Käfig dahinvegetieren muss, dass Millionen von Kindern von Hunger bedroht sind oder sterben, dass Milliarden von Menschen durch Fehlernährung erkranken, wird auch die mächtigste Medizin diese Zerstörung begünstigende Fehlhaltung nicht ausgleichen können.

Medizin hat einen pädagogischen Auftrag

Was befähigt uns, für die Gesundung der Erde und die Vorbeugung von Pandemien zu sorgen?

Die Medizin muss zur Diagnose und Therapie in umfassendem Sinn fähig werden. Es kann nicht nur darum gehen, Viren mit Tests, Impfungen, Hyperimmunglubulinen und Virostatika zu bekämpfen. Eine zukunftweisende Medizin hat einen pädagogischen Auftrag: Sie muss Aufklärungsarbeit leisten unter den Erwachsenen: warum Nahrungsmittel auf eine artgemäße und ökologisch sinnvolle Erzeugung angewiesen sind; und warum täglicher Fleischkonsum eher gesundheitsschädlich als förderlich ist etc. Und den Kindern dieser Erde müssen wir weltweit eine Resilienz und Gesundheit fördernde Erziehung ermöglichen lassen.5 Denn gute Erziehung, die zu selbständigem Denken befähigt und weiterführende Bildungschancen eröffnet, ist längerfristig das beste Mittel, um das Wachstum der Weltbevölkerung auf gesunde Art zu regulieren.

Jeder von uns ist dazu aufgerufen, die Grundannahmen der eigenen Denkweise zu überprüfen und die eigene Haltung zu verändern. Eine echte Wende wird erst möglich, wenn genügend Menschen bereit sind eine „Gedankenwende“ zu vollziehen.

Vgl. Michaela Glöckler, „Fragen und Überlegungen zur Corona-Krise aus medizinischer Sicht“, in: „Corona – eine Krise und ihre Bewältigung, Verständnishilfen und medizinisch-therapeutische Anregungen aus der Anthroposophie“, ISBN 9 783751 917919

Vgl. auch: Georg Soldner, Markus Sommer, „Ökologie und Pandemie. Was lernen wir an COVID-19?“ Rundbrief Medizinisches Seminar Bad Boll am 7. November 2020

  1. Bundestagsdrucksache 17/12051 vom 03.01.2013, https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf., aus:

    Georg Soldner, Markus Sommer, „Ökologie und Pandemie. Was lernen wir an COVID-19?“ Rundbrief Medizinisches Seminar Bad Boll am 7. November 2020

  2. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/pandemien-und-ihre-ursachen-so-zuechtet-der-mensch-ungewollt-neue-seuchen-a-00000000-0002-0001-0000-000170323296
  3. Thomas Hardtmuth, Die Rolle der Viren in Evolution und Medizin, in: Jahrbuch für Goetheanismus, Band 36, 1. Auflage, 2019, Pädagogische Forschungsstelle Stuttgart, S. 47
  4. Ebenda, S. 46.
  5. Vgl. Michaela Glöckler, Schule als Ort gesunder Entwicklung, März 2020, ISBN: 978-3-939374-76-3.

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