Spirituelle Kraftquellen erschließen

Wie aber lerne ich, meinen eigenen Standpunkt zu finden?

Wie gewinne ich meinen Lebensoptimismus, mein Selbstvertrauen zurück?

Wo sind die Quellen des Mutes, der seelischen Gesundheit und der Zuversicht verortet?

Wie kann ich meine Gesundheitspotenziale entfalten und konstruktiv an den komplexen Folgeerscheinungen der Pandemie mitarbeiten?

Was sagt unser Herz zu alldem, welche Botschaft hat unsere Gewissensstimme?

Gibt es ihn, den gesunden Menschenverstand, auf den ich vertrauen kann?

Und: Welches Menschenbild liegt der heutigen Humanmedizin zugrunde?

Braucht nicht gerade die Medizin ein integratives Menschenbild, das die geistige und seelische Daseinsform des Menschen ebenso berücksichtigt wie seine körperliche Existenz?

Im Folgenden möchte ich verschiedene Wege aufzeigen, wie sich aus uns heraus Antworten auf diese Fragen finden lassen.

1. Durch gesunden Menschenverstand

Das klingt schlicht und anspruchsvoll zugleich. Schlicht, weil jeder Mensch unabhängig von seinem Bildungsgrad die Veranlagung dazu hat. Anspruchsvoll, weil es immer schwieriger wird, ihn bewusst zu handhaben und weiterzuentwickeln. Denn er lebt vom Interesse an der Wahrheitsfindung und von der Liebe zum Leben. Menschen mit gesundem Menschenverstand sind umfassend interessiert, aber sie prüfen Gehörtes und gelesene Fakten daran, welche Konsequenzen sie wohl im Lebensalltag haben werden. Dadurch haben sie eine gesunde Urteilsgrundlage - denn was dem Leben dient, kann nicht falsch sein, selbst wenn das eine oder andere Detail im Zuge weiterer Forschung ergänzt, revidiert oder auch ersetzt werden sollte.

Auf jeden Fall bringt man dem „neuesten Stand der Wissenschaft“ keinen blinden Glauben entgegen oder ein bequemes: „Das kann ich ja sowieso nicht beurteilen“. Vielmehr entwickelt man durch echtes Interesse für die Fakten und deren mögliche Konsequenzen einen Blick für das Wesentliche.

Denn Fakten sind das eine – deren Interpretation und Konsequenzen im Alltag das andere. Und wer sich da kein Urteil zutraut, verabschiedet sich in dieser Situation von seinem gesunden Menschenverstand. Denn gesund kann dieser nur erhalten werden, wenn man geistesgegenwärtig bleibt und weiß, warum man dies oder jenes tut, glaubt, macht. Wenn es sich später als falsch oder unproduktiv erweist, so freut man sich, daraus zu lernen, wie es nächstens besser zu machen ist. Schon Konfuzius sagte: es gibt drei Wege zu lernen: einen einfachen durch Nachahmung, einen schmerzvollen durch Erfahrung und einen schwierigen durch Einsicht. Wer gesunden Menschenverstand übt, macht sich klar, was gerade dran ist und wie sich diese Lernstrategien ergänzen.

Gesunder Menschenverstand zeichnet sich auch dadurch aus, dass er Fakten nicht isoliert betrachtet, sondern im Kontext von Lebenserfahrungen. Denn da, wo ich auf eigene Erfahrungen und deren Verarbeitung bauen kann, entsteht innere Sicherheit und Selbstvertrauen und damit ein gesundes Selbstwertgefühl. Gesunder Menschenverstand entwickelt sich am Leben für das Leben. Es geht darum, wach zu bleiben und das, was man liest und täglich erlebt, ernst zu nehmen und zu hinterfragen, wenn einem etwas merkwürdig vorkommt.

Je mehr Menschen dies tun und den Mut haben, es zu teilen, umso weniger Angst und Sorge muss man vor einer möglichen Totalüberwachung haben. In der voll digitalisierten Alltäglichkeit, wo zunehmend die Möglichkeit schwindet, bar zu bezahlen, analog eine Speisekarte zu studieren und zu bestellen etc. und eine unabsehbare Flut neuer Daten zentraler Auswertung harren, braucht es neue Formen zum Schutz der Privatsphäre und demokratische Mitbestimmung. Diese werden aber nur kommen, wenn sich die Menschen mehrheitlich dieser Problematik zuwenden, sich interessieren und sich entsprechend engagieren.

Gesunder Menschenverstand verträgt sich nicht mit Bequemlichkeit, Oberflächlichkeit und Sicherheitsdenken, sondern ist Folge von persönlicher Initiative und echtem Menschen- und Welt-Interesse, d.h. dem, was Friedrich Schiller den Zweck des Menschseins nennt: die Ausbildung aller menschlichen Kräfte, Fortschreitung. Zu diesen menschlichen Kräften zählen insbesondere Freiheit und Würde, Selbstbestimmung und soziale Kompetenz. Dass jedoch Freiheitsdenken, Mut und Risikobereitschaft nicht ins Chaos führen, ist die zentrale Erziehungsfrage unserer Zeit.

Die gegenwärtigen Schul- und Bildungssysteme entsprechen dieser moralischen Herausforderung nicht. Sie fördern vielmehr durch ihre einseitige Leistungsorientierung und Testkultur Anpassung und Absicherungsdenken. Und sie korrumpieren durch das ständige Verglichen-Werden mit „besseren“ und „schlechteren“ Schüler*innen die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins und Respekts für Schwächere und Stärkere. Die „Besseren“ werden überheblich, die „Schlechteren“ deprimiert. 1 Ein gesundes Selbstbewusstsein braucht als Grundbedingung für seine Entwicklung jedoch, dass jedes Kind nur mit sich selbst verglichen wird und Freude am eigenen Fortschritt erlebt. Und es braucht die Begleitung von Pädagog*innen, die ihm helfen aus seinen Fehlern zu lernen. Denn ohne diese Kompetenz der Selbstreflexion und des Lernens aus eigenen Fehlern und aus Fehlern anderer kann sich gesunder Menschenverstand ebenso wenig entwickeln wie ein gesundes Selbstbewusstsein und Verständnis für das Fehlverhalten anderer, d.h. soziale Kompetenz.

Auch wird dadurch vorgebeugt, andere Menschen zu überschätzen oder zu unterschätzen. Solch eine Lebenseinstellung und Grundhaltung kann man nicht lehren – man muss sie Kindern und Jugendlichen vorleben, es mit ihnen üben – was eine entwicklungs-orientierte Pädagogik leisten kann. Denn dafür braucht es gute verbindliche menschliche Beziehungen. Wer meint, dies sei durch eine noch so gut ausgedachte Lernsoftware ersetzbar, irrt sich leider sehr. 2

Daher nennen die Fachleute des „Bündnis für humane Bildung“ die Digitalisierung von Kindergärten und Grundschulen zu Recht Kindeswohlgefährdung. 3

Warum kostbare Entwicklungszeit mit Maschinen verbringen, anstelle ganzkörperlich und analog aktiv im Umgang mit Natur und Mensch, so wie es die gesunde Gehirnreifung benötigt?

Der bedenken- und kritiklose Umgang mit den digitalen Endgeräten in Kindheit und Jugend ist ein gravierendes Versagen von gesundem Menschenverstand bei Politikern, Fachleuten und Laien.

2. Durch Gewissenskultur

Kannst du mir die Natur des Gewissens erklären?

So fragt Heinrich von Ofterdingen im gleichnamigen Roman von Novalis im zweiten Teil den Arzt mit Namen Sylvester. Dieser antwortet: Wenn ich das könnte, so wäre ich Gott. Denn indem man das Gewissen begreift, entsteht es. Es entspinnt sich ein intensiver Dialog, an dessen Ende deutlich wird, dass die Gewissensstimme „Gottes Wort“ ist. Durch das Gewissen hat der Mensch unmittelbaren Anschluss an die Ebene der Spiritualität, d. h. an Inspirationen, die nicht von dieser Welt sind, sondern aus einer umfassenderen höheren Einsicht hervorgehen. Um sich dafür zu sensibilisieren, braucht es den genannten gesunden Menschenverstand und echte Wahrheitsliebe. Ohne diese fehlt einem auf spirituellen Entwicklungswegen der Proviant und für die Gewissensstimme das Ohr.

Selbstverständlich kennt jeder das sogenannte gute oder schlechte Gewissen. Es entwickelt sich in Abhängigkeit von Umwelt, Erziehungspraxis und Erfahrung. Was jedoch neu und selbstständig gelernt werden kann, ist das sensibel werden für die feine Gewissensstimme, die nur spricht, wenn man ehrlich fragt und wissen möchte, was in einer bestimmten Situation richtig ist oder vor wem man sich verschuldet hat. Das spontan auftretende „gute Gewissen“ dient dem Rechtfertigungsbedürfnis im Sinne von: Man hat sich doch nichts vorzuwerfen!

Das schlechte Gewissen stellt einem vor Augen, wie man jetzt von anderen eventuell gesehen oder be- und verurteilt wird und erzeugt Abhängigkeit von Autoritäten oder Meinungsführern. Beide Qualitäten behindern daher ehrliche Selbsterkenntnis und den Willen, für alles verantwortlich zu zeichnen, was man im Guten wie im Schlechten getan hat. Wer sein Fehlverhalten aus eigenem Antrieb einsieht und daraus lernen möchte, wie er in Zukunft handeln will, braucht sich weder zu rechtfertigen noch wird er sich von äußerer Anerkennung abhängig machen. Er ruht in sich und steht zu dem was war und ist.

So wie der Arzt in letzter Instanz – per Berufsrecht – nur seinem Gewissen verantwortlich ist, so kann dies das Privileg für jeden Menschen sein. Das setzt aber eine Erziehungskultur voraus, die eine gesunde Gewissensbildung ermöglicht. 4 Dieser Entschluss, sich in letzter Instanz nicht vor Staat, Kirche oder Wissenschaft zu verantworten, sondern vor seinem autonomiebegabten „besseren Selbst“ bzw. „höheren Ich“, regt das selbst-ständige Denken an, macht Mut, stärkt das Herz und damit auch das Immunsystem und wird so zu einer bedeutenden spirituellen Kraftquelle.

Selbstverständlich nimmt man angesichts der Corona-Pandemie Rücksicht auf Bestimmungen, Sorgen und Ängste im eigenen Umfeld – man ist sich jedoch sicher, dass die Entscheidung über Tod und Leben nicht von behördlichen Bestimmungen abhängt, sondern tief im eigenen Lebensschicksal begründet ist. Unschwer wird man auch die Balance herstellen können zwischen der Akzeptanz von Bestimmungen, die tatsächlich dem Lebensschutz dienen und der Absurdität von Bestimmungen, die zum Selbstzweck werden und damit lebensfremd. Sicherheit höher zu stellen als Freiheit, blinden Gehorsam zu fordern und Prinzipien wichtiger zu nehmen als die Lebensrealität sind typisch für die Logik des Materialismus und der Optimierung von Kontroll- und Machtstrukturen. Sich einzugestehen, dass das einzig Sichere im Leben der Tod ist - das setzt Kräfte frei, die Kostbarkeit der Lebenszeit umso intensiver zu schätzen.

Vorbildlich war in diesem Sinne das Pandemieregime in Schweden, wo man auf Lebensrealismus und Selbstverantwortung setzte. Dadurch konnten sich die Menschen dort ein weitgehend normales Leben erhalten. Auch haben sie aus ihren Anfangsfehlern gelernt und diese auch öffentlich zugegeben. Warum sie aber im Abklingen der Pandemie die Zwangsimpfung eingeführt haben kann ich mir nur wirtschaftspolitisch erklären. Medizinisch und epidemiologisch spricht eigentlich alles dagegen.

Die Stimme des Gewissens spricht zu jedem Menschen, unabhängig von Geschlecht, Bildungsgrad, Hautfarbe und sozialer Stellung. Vor ihr sind alle Menschen gleich „Ich-begabt“. Dieser Ich-Begabung auf die Spur zu kommen ist zugleich auch der Weg, das eigene Gewissen zu verstehen. Denn wenn wir unserem Gewissen folgen, folgen wir einerseits uns selbst und andererseits auch einer höheren Weisheit, wenn wir uns nicht vom sogenannten guten oder schlechten Gewissen ablenken lassen. Der Anschluss aber an diese höhere Weisheit ist die stärkste spirituelle Kraftquelle, die wir uns erschließen können.

3. Durch „Erwachen im Denken“

Im dritten Kapitel des Johannesevangeliums belehrt Jesus den Pharisäer Nikodemus über die zweite Geburt „aus Wasser und Geist“, ohne die man nicht in das Reich Gottes kommen kann. Und in der Apokalypse des Johannes wird an verschiedenen Stellen (z.B. Offenbarung 20,6) vom zweiten Tod gesprochen. Geburt und Tod begrenzen unseren Lebenslauf. Die zweite Geburt zu bewerkstelligen, um dadurch dem zweiten Tod zu entgehen – ist die Aufgabe, die sich der Selbsterkenntnis jedes Menschen stellt: Kann ich mich schon während des Lebens Kraft meines Denkens, Fühlens und Wollens als „ewiges“ Wesen begreifen, so bleibt mir dieses leibunabhängige Bewusstsein auch nach dem Tod erhalten, und ich schlafe nicht ein bzw. verliere das Selbstbewusstsein nach dem Tod.

So schwer verständlich dies auch erscheinen mag – es kann sich durch eine einfache Überlegung klären: wenn ich mich selbst nicht denkend erfasse, mir kein Leitbild für meine eigene Entwicklung gebe, mache ich mir Sinn und Wert meines Ich nicht bewusst. Selbstverständlich bleibe ich Teil dieser Schöpfung, lasse aber mein Entwicklungspotential zum autonomen, selbstdenkenden und entscheidenden Wesen ungenutzt. Im Johannesevangelium steht dieser Autonomiegedanke, diese individuelle Entscheidungskompetenz ganz im Zentrum.

Nicht nur dass es im achten Kapitel direkt so formuliert wird: Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen – es ist vielmehr die Kernbotschaft, der Entwicklungsweg, der sich durch das ganze Evangelium einschließlich der Apokalypse hindurch zieht. Es ist die Frage nach dem inneren Kompass, nach unserem Lebensideal, das uns in allem Auf und Ab die Orientierung gibt. Wer sich zum Beispiel mit den drei Entwicklungsidealen der Wahrhaftigkeit, der Liebe und der Freiheit identifiziert und sein Leben dafür benützt, so viel wie möglich diese Charaktereigenschaften zu üben, der hat einen inneren rein geistigen Führer. Denn diese drei Ideale sind nicht etwas, was der Sinneswelt angehört. Sie lassen sich auch nicht mathematisch definieren. Hingegen eignet ihnen die Kraft der Orientierung, indem man mit ihnen lebt. Wir können sie denken, uns dafür begeistern und unser Leben und Handeln nach innen richten. Wer dies tut, erlebt diese Ideale als unversiegliche Kraftquelle.

Und wenn man dann im Johannesevangelium liest: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben5, ich bin unter euch, wenn ihr euch liebt6 und die Wahrheit wird euch frei machen7 – dann kann man auch ahnen, woher die innere Stärkung kommt. Es ist dies das Geheimnis der Identifikation: womit ich mich verbinde, dass stärkt mich auch, dass lebt in mir. Rudolf Steiner hat in seinem Buch zur Selbstschulung diese Konfrontation mit sich selbst mit schlichten Worten beschrieben: Schaffe dir Augenblicke innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden. 8

4. Durch Verstehen, was Spiritualität ist

Da Spiritualität kein sinnlich fassbares Faktum ist, ist sie Gegenstand von Philosophie, Religion und esoterischen Bestrebungen in Ost und West. Wer materialistisch erzogen ist, dem ist diese Welt nicht nur verschlossen, sondern er hält sie für unnötig, abwegig, um nicht zu sagen schräg oder verrückt. Auch machen Gespräche darüber unter Umständen Angst, weil man hier keinen sicheren Boden unter den Füßen hat. Wenn man sich aber klarmacht, dass ja jeder Mensch spirituell begabt ist und auch spirituelle Fähigkeiten hat, auch wenn er diese bisher gar nicht als real vorhanden bemerkt hat, so kann sich dies schnell ändern. Wer nur ein wenig über das Denken nachdenkt oder sich klarmacht, welche stärkende oder destruktive Wirkung Gefühle haben können, wird aufmerksam auf diese unsichtbare Welt innerer Realitäten, mit denen wir ebenso zurechtkommen müssen wie mit den äußeren Gegebenheiten. Nichts anderes ist mit „höheren Welten“ gemeint.

Denn auch religiöse Urkunden erschließen sich über Gedanken und Worte über Mythologien und Bilder, die sich die modernen Menschen auch nur durch Nachdenken und künstlerisches Empfinden erschließen können. Wenn zum Beispiel im Johannesevangelium das Wandeln des Jesus auf dem galiläischen Meer beschrieben wird, so kann man dies wortwörtlich nehmen und ein Wunder bestaunen. Man kann aber auch das Bild zu sich sprechen lassen und empfinden, dass es hier um das Urbild geht, wie die Ich-Kraft im Menschen auf eine solche Entwicklungshöhe kommen kann, dass sie Herrscher im Auf und Ab seelischer Schwankungen wird.

Brückenfunktion des Denkens

Denken ist sozusagen die Brücke zwischen der Sinneswelt und der Geisteswelt. Es erklärt uns die Welterscheinungen, ist aber selbst nicht sinnlich wahrnehmbar. Rudolf Steiner nannte die Mathematik eine Vorschule der Geisterkenntnis, 9 weil hier ganz bewusst an Gesetzmäßigkeiten gearbeitet wird, denen die sichtbare Welt gehorcht, die aber selbst nicht sinnlicher Natur sind.

Zum Glück kann man auch ohne tiefere mathematische Erkenntnisse sich von der geistig- regulativen Kompetenz seines Denkens überzeugen und die Brücken-funktion des Denkens zwischen Materie und Geist entdecken: So wie Vorstellungen unmittelbar an den Sinneswahrnehmungen gebildet werden, so entziehen sich Begriffe bereits vollständig dem sinnlich Erfahrbaren. Der Begriff des Kreises gilt für alle vorstellbaren Kreise. Deswegen werden Begriffe auch definiert und nicht vorgestellt. Der Kreis ist definiert als geometrischer Ort aller Punkte, die von einem Mittelpunkt gleich weit entfernt sind. Wieder anders ist es jedoch mit den Gedanken, die wir Ideen nennen.

Ideen kann man sich nicht begrifflich erarbeiten. Sie müssen einem vielmehr „einfallen“. Man freut sich über gute Einfälle, negative ängstigende Einfälle hingegen beunruhigen. Doch nur selten fragen wir uns, aus welcher unsichtbaren Welt solche Ideen stammen und wohin sie wieder verschwinden. Interessant ist auch, dass große wissenschaftliche Entdeckungen oft im selben Zeitraum an verschiedenen Orten gemacht werden.

Rudolf Steiner benützt für die Welt der Gedanken, die allen Menschen zugänglich ist und die uns mit den außersinnlichen Welten und ihren Wesen verbinden, den Begriff der ätherischen Welt. Das griechische Wort Äther bezeichnete den durch-sonnten blauen Himmel, dessen Licht als Energiespender die Fotosynthese der Pflanzen ermöglicht. Steiners Entdeckung war, dass das biologische Leben auf der Erde durch dieselben Gesetze und Kräfte zustande kommt, die auch im Denken walten, im sogenannten „ewigen Leben“. Er nannte dies von ihm gefundene neue psychosomatische Paradigma: die Metamorphose von Wachstums- und Lebenstätigkeit in Gedankentätigkeit. 10

Prüft man diesen neuen Ansatz zum Verständnis der Natur des Denkens an seinem eigenen Denkvermögen im Verhältnis zum biologischen Entwicklungszustand seines Körpers, so kann man z.B. bemerken: Das wache, selbstbewusste Denken beginnt in der Regel erst im dritten, vierten Lebensjahr und reift erst nach dem pubertären Wachstumsschub vom 15./16. Lebensjahr an zur vollen Erwachsenen-kompetenz aus. Dann nimmt es in der zweiten Lebenshälfte weiter zu, auch wenn die Alterungsprozesse beginnen und die Regenerationskraft nachlässt. Beim gesund alternden Menschen kann geistige Frische durchaus mit körperlicher Hinfälligkeit vereinbar sein. D. h. die ätherischen Kräfte, die der Körper nicht mehr für Wachstum und Entwicklung braucht, hat er dafür als zunehmende Altersweisheit. Auch zeigen die gut dokumentierten Nahtodeserlebnisse, 11 dass im scheinbaren Todesaugenblick ein Erwachen im Gedankenorganismus eintritt, was überzeugend als außerkörperliche Erfahrung beschrieben wird.

Im Köper erscheinen die ätherischen Kräfte als Lebensenergie, als vergängliche Lebenszeit. Im Denken hingegen als Gedankenkraft und Träger des „ewigen Lebens“.

Untenstehende Skizze möge dies verdeutlichen und zugleich das spirituelle Menschenbild der Anthroposophie ins Bild bringen. Die Skizze zeigt neben der Metamorphose der ätherischen Kräfte aus Wachstums- in Gedankenkräfte auch noch zwei weitere Kraft-Metamorphosen. Die Kräfte, durch die Zellen sich differenzieren, Organe sich voneinander abgrenzen und gestalten – einschließlich der Differenzierung in die männliche und weibliche Konstitution – metamorphosieren sich in dem Maße, in dem sie im Körper nicht mehr gebraucht werden, in Gefühlskräfte.

Das spirituelle Menschenbild der Anthroposophie mit seinen vier Gesetzeszusammenhängen ermöglichen in ihrem Zusammenwirken die leibliche, seelische und geistige Existenz des Menschen. 12

Steiner benützt für die seelischen und geistigen Kräfte nicht das Wort Energie, sondern bevorzugt den Ausdruck Kraft, entsprechend auch für die Kraft der Persönlichkeit, des Ich. All die Gesetzmäßigkeiten aber, die bewirken, dass sich letztlich eine harmonische Gesamtgestalt bildet, in der man sich als fokussiertes, selbstbewusstes Ich erleben kann, werden von Steiner Ich - Organisation genannt. Es sind die Kräfte der Integration, der Fokussierung.

Wenn der Mensch ausgewachsen und die wesentliche Integrationsarbeit in der Konstitution und Gestaltbildung absolviert ist, können diese Kräfte sich ebenfalls metamorphosieren. Sie treten dann als „freier Wille“ auf. Es sind Willenskräfte unabhängig vom Körper, so wie es die Gedanken- und Gefühlskräfte sind.

Was jedoch als Wachstums-Differenzierung und Integrationskraft in den biologischen Verrichtungen des Körpers verbleibt, ist von der Natur gesteuert und nicht frei. Frei ist der Mensch nur da, wo er die Selbstbeherrschung im Denken, Fühlen und Handeln übt. Aus einer ähnlichen Erfahrung heraus hat wohl auch Goethe in seinen Sprüchen in Prosa formuliert, dass das Tier durch seine Organe belehrt wird, der Mensch hingegen in der Lage ist, seine Organe zu belehren.

Eingebettet in vorgeburtliche und nachtodliche Existenz

Ein solcher psychosomatischer Betrachtungsansatz macht es denkbar, das menschliche Leben eingebettet zu sehen in eine konkrete Prä- und Postexistenz. Was dafür spricht ist, dass die menschliche Entwicklung unaufhaltsam fortschreitet, jedes Jahrhundert den Menschengemeinschaften und der Erde ein anderes Gesicht gibt, weil jeder Mensch die gemachten Erfahrungen in einem Erdenleben nachtodlich in einer rein geistigen Welt verarbeiten und mit neuen Impulsen in ein nächstes Erdenleben eintreten kann.

Die in den vorhergehenden Unterkapiteln angeführten Kraftquellen können vielleicht auf der Grundlage dieses hier in aller Kürze skizziert Menschenbildes noch besser verstanden werden. Wir sind als Menschen einerseits ein Teil dieser Schöpfung und andererseits der einzige Ort in den uns bekannten Naturreichen, wo die wirkmächtigen Gesetze dieser Schöpfung aus dem Naturzusammenhang herausgelöst werden und als reine nur gedanklich erfahrbare Gesetze in Erscheinung treten.

Darauf beruht die „Physiologie der Freiheit“. Wir selbst bestimmen die Art und Weise, wie wir mit unserem außerkörperlichen, „freien“ Denken, Fühlen und Wollen umgehen. Wir sind aber auch dafür verantwortlich – und leben infolgedessen in den Konsequenzen dessen, was wir gedacht, gefühlt und getan haben. Diese Konsequenzen haben dann auch wiederum Einfluss auf die Gestaltung unseres Körpers im nächsten Erden Leben. Wir werden immer mehr der, der wir werden wollen.

Friedrich Schiller, der ja auch Arzt war, lässt in seinem Drama Wallenstein diesen sagen: Es ist der Geist, der sich den Körper baut. Für die Vertreter des deutschen Idealismus und der Frühromantik war dies eine selbstverständliche Annahme und auch innere Erlebnisqualität. Wer sich mit der Anthroposophie eingehender beschäftigt und zum Beispiel Rudolf Steiners Vorträge wie „Die Evolution vom Gesichtspunkt des Wahrhaftigen“ ua. liest,13 kann sich auf der Grundlage dieses spirituellen Menschenbildes leichter vorstellen, dass es auch übersinnliche Wesen gibt, die sich zwar seelisch und geistig den Menschen mitteilen können, sich aber nicht so wie Mensch, Tier und Pflanze in der sichtbaren Welt „verkörpern“.

Zumutung Anthroposophie

„Zumutung Anthroposophie“ – so heißt ein lesenswertes Buch, dass der langjährige Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk in den Ressorts Wissenschaft und Zeitgeschichte geschrieben hat. 14 Im Klappentext schreibt er: „Das Phänomen Steiner bleibt erstaunlich und leicht angreifbar. Nur diejenigen werden es für relevant halten, die wenigstens in Teilbereichen den klaren Eindruck gewinnen, dass hier große Durchblicke gelungen sind, die unserer Zeit bitter fehlen; und die bereit sind anzuerkennen, dass Bedeutendes nicht immer auf die Weise in die Welt tritt, wie man das nach den gewohnten Kategorien erwarten würde.“

Dem naturwissenschaftlichen Materialismus eine Geistes-wissenschaft an die Seite zu stellen, war Rudolf Steiners Lebensaufgabe. Wer diese Geisteswissenschaft studiert, lernt alle materiellen Gegebenheiten in ihrem Entstehen und Vergehen auf geistige Ursachen und Zielsetzungen hin zu betrachten – so auch Gesundheit und Krankheit. 15 Dieses neue westliche, auf klares Denken gebaute spirituelle Menschen- und Weltverständnis ist geeignet, einen heilsamen Ausgleich zu schaffen für die Einseitigkeiten, die infolge der Ökonomisierung und Technisierung aller Arbeitsbereiche entstanden sind.

Es braucht jedoch dafür den gegenseitigen Respekt. Und so möchte ich diesen Beitrag mit der Hoffnung abschließen, dass im weiteren Verlauf des „Lebens mit dem Virus“ solcher Respekt wieder wachsen kann und die Destruktivität von Feindbildern erkannt wird. Es braucht aber auch den Mut, für eine spirituelle Weltsicht und Kulturarbeit ebenso klar und selbstbewusst einzutreten, wie dies die Vertreter der Optimierung des Menschen mithilfe der Technik und der transhumanistischen Visionen tun.

Fazit: Spiritualität ist nicht nur Privat- oder Glaubenssache. Sie ist heute ein dringendes Zeiterfordernis, um die Schäden zu kompensieren, die infolge des einseitig technokratischen Kulturfortschritts entstanden sind. Da sie immaterielle Entwicklungsziele und Werte mit sich bringt, führt dies wie von selbst zum Verzicht auf Unwesentliches, zu einem bewussten Konsumverhalten, zu Toleranz und Menschenverständnis und dem Arbeiten für eine Friedenskultur.

  1. Vgl. Michaela Glöckler: Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, Stuttgart, 2. Auflage 2020
  2. Edwin Hübner, Michaela Glöckler: Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt, Hrsg. Diagnose:media
  3. www.aufwach-s-en.de
  4. Gerald Hüther: Würde, Knaus-Verlag
  5. Neues Testament, Johannes 14,6
  6. Ebenda, Johannes 15,9
  7. Ebenda, Johannes 8,32
  8. Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Seite 26
  9. Louis Locher-Ernst; Mathematik als Vorschule zur Geist-Erkenntnis, Verlag am Goetheanum
  10. Rudolf Steiner: Theosophie, GA 9 Rudolf Steiner und Ita Wegman: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27 Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde, GA 293
  11. z.B. Pim van Lommel: Endloses Bewusstsein, Patmos
  12. Michaela Glöckler: Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, S. 63
  13. Rudolf Steiner: Die Evolution vom Gesichtspunkt des Wahrhaftigen, GA 132 Rudolf Steiner: Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen, GA 136 Rudolf Steiner: Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt, GA 110
  14. Wolfgang Müller: Zumutung Anthroposophie. Rudolf Steiners Bedeutung für die Gegenwart, Frankfurt 2021
  15. Michaela Glöckler: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, Berlin 2021

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