Persönliche Erfahrungen

Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit Demenz gemacht?

Meine Mutter litt in den letzten sieben bis acht Jahren unter einem fast kompletten Raum- und Zeitorientierungsverlust, erkannte aber ihre Familienangehörigen, auch mich. Wenn man im Laufe eines Besuchs einmal kurz hinausging und wieder hereinkam, begrüßte sie einen, als wäre man ewig nicht dagewesen. Dabei war man gerade erst hinausgegangen.

Frühe intellektuelle Schulung

Meine Mutter war sehr intelligent, ihr Intellekt wurde früh geschult. Sie übersprang in sehr jungen Jahren drei Klassen und kam erst mit vierzehn auf die Waldorfschule. Ihre Mutter hatte Rudolf Steiner in Berlin gehört und wollte, dass ihre Tochter die neu aufgemachte Schule besuchte. Sie wurde dann während des Krieges nach Stuttgart auf die erste Waldorfschule geschickt, wurde dort zwei Klassen zurückgestuft und war dann die Jüngste. Sie fand das anfangs ganz schrecklich.

Zum Glück gefiel es ihr nach einem halben Jahr so gut an der Schule, dass sie nicht wieder zurück ging in die Berliner Schule, wo sich ihr Intellekt viel zu früh und viel zu schnell entwickelt hatte. Wenn die Intelligenz von Kindern zu früh beansprucht wird, verlassen ihre ätherischen Kräfte den Körper auch zu früh, noch bevor das Nervensystem in Ruhe ausreifen konnte. Weil ich wusste, wie meine Mutter aufgewachsen war, wusste ich auch, was sie möglicherweise erwartete. Sie hat jedoch ihr Leben lang anthroposophisch gearbeitet, weswegen ihre Erkrankung nicht ganz so schlimm verlief.

Durchgangssyndrom

Im letzten Jahr ihres Lebens stürzte sie und entwickelte ein Durchgangssyndrom – sie war ein einziges Verzweiflungsbündel, verstand gar nichts mehr und verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme. Ich bekam damals einen Anruf von meiner Schwester, die sie nicht sterben lassen wollte. Ich sagte zu meiner Schwester, die auch Ärztin war, das müsste sie mit dem Heimarzt am Bett selbst entscheiden. Sie sollten sich ans Bett stellen und Mutter fragen:

Willst du jetzt gehen und sollen wir dir dabei helfen? Oder sollen wir dir eine Infusion legen, damit du nicht vertrocknest? Wenn du dich erholt hast, kannst du deinen Todeszeitpunkt selbst bestimmen.

Die beiden riefen mich nach einer Stunde an und sagten, sie hätten ihr nochmals eine Infusion gelegt, weil sie am Bett begriffen hätten, was in Mutters Sinn war. Wenn man den Geist wirklich fragt, antwortet er auch. Sie hat sich nochmals erholt, hat wunderbare Ostern gefeiert und sich nochmals an all ihren Enkeln erfreut.

Befreiendes Sterben

Anfang Mai bekam sie eine Bronchitis, die wir nur anthroposophisch behandelten, wie sie es immer wollte, und dann kam das Wunder: Sie müssen sich vorstellen, meine Mutter hatte fünf Töchter und einen Mann und keiner konnte sich um sie kümmern. Alle Töchter standen voll im Beruf. Als mein Vater die Pflege nicht mehr bewältigte, war klar, dass wir sie in ein Pflegeheim geben mussten. Wir trösteten uns damit, dass unsere Mutter nie jemandem hätte zur Last fallen wollen. Wir hielten uns an diesen Gedanken wie an einen Rettungsanker. Es erscheint ja immer grausam, wenn man die eigene Mutter in Pflege gibt. Deshalb hatten wir trotz allem ein schlechtes Gewissen und unser lieber Vater, der ebenfalls noch voll berufstätig war, auch.

Nun suchte sie ihren Todesaugenblick genau in der halben Stunde, in der mein Vater sie in der Mittagspause immer besuchte. Er kam ins Zimmer, sie strahlte ihn an und verdrehte dann plötzlich die Augen. Er nahm sie in die Arme, sie kam noch einmal zu sich, öffnete die Augen und sagte: „Das hast du aber gut gemacht!“ Zehn Minuten später machte sie ihren letzten Atemzug. Damit hat sie die ganze Familie von ihrem schlechten Gewissen geheilt.

Vortrag über Demenz im Hombrechtikon, Schweiz 2007