Wahrheit als Grundlage für Körperaufbau und Denken

Inwiefern liegt Wahrheit unserem Denken und unserer Leiblichkeit zugrunde?

Wahres denken – aus Liebe handeln

Es gibt nichts in der Welt, worüber wir nicht nachdenken könnten. Die Welt, wie sie ist, kann in allen Einzelheiten bedacht und nach und nach verstanden werden. Dabei kann uns auf bestürzende Weise bewusstwerden, dass unser Denken bzw. unser Denkvermögen an sich auch „wahr“ ist, da es der Träger aller Gedanken und Gesetzmäßigkeiten ist, denen die Einzelheiten der Sinneswelt entsprechen (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen). Dennoch ist das bloß Gedachte für uns noch nicht wahr, solange wir nicht aktiv die Beziehung zur Sinneswirklichkeit oder zu dem, worauf das Denken sich bezieht, hergestellt haben. Gelingt es, eine Übereinstimmung zwischen Gedanken und Wirklichkeit herzustellen, können wir die betreffende Wahrheit nicht nur denken, sondern auch empfinden und, wo möglich, realisieren. Es ist eine große Illusion zu meinen, es wäre schon genug, eine Wahrheit nur zu denken (vgl. Gefühle und Fühlen: Schulung der Gefühle durch das Denken).

Gesellt sich zu dem, was als wahr erkannt wurde, nicht die Liebe zur Wahrheit, ist man nicht in der Lage, mit ihr im Leben und damit in der Welt des Handelns – also auf dem Boden der Wirklichkeit – so umzugehen, wie es dem Wesen der erkannten Wahrheit entspricht. Wie verletzend kann eine lieblos ausgesprochene Wahrheit für unsere Mitmenschen sein! Sie kann Kränkung bedeuten für das ganze Leben. Wird sie hingegen im rechten Augenblick und mit dem gebotenen Taktgefühl ausgesprochen, kann sie helfen, dass der andere seine Beziehung – zur Arbeit oder zu einem Menschen – neugestalten kann. Geht man mit der Wahrheit nicht in heilsamer, gesunder Weise um, wird man ihr nicht gerecht (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit). Man läuft dann Gefahr, sie zu missbrauchen und in den Dienst persönlicher Neigungen zu stellen, indem man z.B. jemanden kritisiert, ohne sich zu vergegenwärtigen, was man damit bewirkt.

Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit

Rudolf Steiner hat deshalb im pädagogischen Zusammenhang immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Begriffe „wahr“ und „falsch“ heute ersetzt werden müssen durch „gesund“ und „krank“. So wie Irrtum und Lüge Behinderung und Unordnung bedeuten, so ist Wahrheit gleichbedeutend mit Einklang, Zusammenhang, Beziehung, Integration und Gesundheit.

Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit – und damit auch zwischen dem Denken und dem menschlichen Organismus – geht jedoch noch tiefer. In seinem gemeinsam mit der Ärztin Dr. med. Ita Wegman verfassten Buch „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“1 führt Rudolf Steiner aus, dass das Denken dem Kraftsystem entspringt, nach dessen Gesetzen der menschliche Organismus aufgebaut ist. Nach Vollendung des Aufbaus wird ein Großteil dieser Kräfte aus dem Körper entlassen für das freie Gedankenspiel. Im Körper werden nur die Kräfte belassen, die zur lebenslangen Regeneration und Selbstheilungstätigkeit nötig sind (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Wachstums- und Gedankenkraft).2 Die Denktätigkeit des Menschen nicht nur als schattenhafte Reflexion anzusehen, sondern als schaffende Bildekraft der Evolution, ändert schlagartig unser Verhältnis zu dieser Welt. Eine neue Dimension der Verantwortlichkeit tut sich auf, wenn uns bewusstwird, dass die Kräfte und Gesetze, die der Schöpfung zugrunde liegen, in Form des menschlichen Denkens auch uns in die Hand gegeben wurden. Durch unsere geistigen Möglichkeiten geht die Schöpfung weiter. Wir gestalten sie verantwortlich mit, indem wir Gedanken in Wirklichkeit umsetzen.

So wie am menschlichen Organismus alle Naturgesetze in irgendeiner Form mitwirken und nahezu alle Stoffe, die auf der Erde vorkommen – zumindest in Spuren – an seinem Aufbau beteiligt sind (vgl. Christus heute: Jesus-Christus und der Tempel des Leibes), so finden wir auf der Gedankenebene dieses weltumspannende Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeiten entsprechend wieder.

Leiblichkeit, Kunst und Religion

Wir finden die Gesetze, die den verschiedenen künstlerischen Disziplinen zugrunde liegen, aber auch im Aufbau des Leibes wieder: Unserem Leib liegt Architektur zugrunde, er ist eine Plastik, folgt einer Komposition, hat Farbe, einen mimischen Ausdruck, „Körpersprache“ und kann sich in Tanz und Eurythmie bewegen (vgl. Identität und Ich: Kunst als Weg zur Ergreifung des Ich). All diese Gesetzmäßigkeiten tragen wir selbstverständlich auch in unserem Denken, wodurch Kunsterkenntnis und Kunstverstehen überhaupt erst möglich sind.

Unser Leib ist aber auch nach moralisch-religiösen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut, was mit dem Wort aus dem Alten Testament angedeutet wird: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild.“ Wir können das Studium der Bildnatur des Leibes als Weg zur Gotteserkenntnis entdecken.3 Wer den menschlichen Leib als Bild zu sich sprechen lässt, begegnet der Göttlichkeit des Menschen – dem reinsten Ideal der Menschlichkeit, das sich in Bau und Funktion des menschlichen Körpers ein physisches Abbild geschaffen hat (vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Der Mensch als Offenbarung des Göttlichen): Die Menschengestalt hat den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes oben und alle anderen Bereiche, auch Herz und Hand sowie die inneren Organe, die Fortpflanzungsorgane, die Beine und Füße sind diesem Kopf sichtbar untergeordnet bzw. unterstellt. Wohin die Füße den Menschen tragen, wie er mit seinen Fortpflanzungskräften umgeht, was er sich von seinem Herzen sagen lässt, all das bedarf der klärenden und ordnenden „Weisung von oben“.

Wer nur seinem Herzen folgt oder seinen sexuellen Neigungen oder sich vom Leben hierhin und dorthin treiben lässt, widerspricht durch sein Handeln der Bildnatur seines Leibes, die davon spricht, dass das Erkenntnisleben, das Denken, dem Herzen, der Hand und dem Fuß Perspektive und Orientierung geben muss. Die Hand des Menschen ist so geformt, dass man ihr nicht ansehen kann, ob sie im nächsten Augenblick streicheln oder schlagen wird. Die Motive für den Gebrauch der Hand können nur gedanklich gefasst und klar erkannt werden.

Das Bild des menschlichen Körpers zeigt, dass darin ein Wesen lebt, das veranlagt ist, seinen Weg zu gehen, selbst die Wahrheit zu suchen und im Denken seine Orientierung, sein inneres bewusstes Lebenselement zu finden. Das macht deutlich, nach welchem Gottesbild der menschliche Körper geformt ist: nach der Christuswesenheit, die von sich sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ 4, und die durch ihre Inkarnation in einem menschlichen Leib diesen als Gottes Ebenbild in der Realität mit der Anwesenheit Gottes erfüllt hat (vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Gottebenbildlichkeit des Ich). Damit ist das Zukunftsziel des Menschen für uns real geworden und kann nun als mögliche Wirklichkeit für unsere Selbstverwirklichung gesucht werden. Auf diesem Wege sind Lüge und Irrtum weckende Begleiter.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Rudolf Steiner/Ita Wegman: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, 1925, neueste Aufl. 2000, S. 12 f.
  2. Nähere Ausführungen hierzu in: Michaela Glöckler, Elternsprechstunde, 8. Aufl. Stuttgart 2008; Glöckler, M.: Elternfragen heute. 2. Aufl. Stuttgart 1995.
  3. Vgl. Michaela Glöckler, Elternfragen heute, 2. Aufl. Stuttgart 1995, S. 121 ff.
  4. Neues Testament, Johannes 14, 6.