Geburt und Entwicklungsbegleitung am Lebensanfang

Was ist der wichtigste Rat für junge Eltern?

Welchen Einfluss hat die Art und Weise, wie ein Kind auf die Welt gekommen ist, auf das zukünftige Leben, ob über eine Spontangeburt oder ob die Geburt mit Schmerzmitteln durch PDA begleitet wird oder ob ein Kaiserschnitt vorgenommen wird?

Und wie beeinflusst die Art, wie die Geburt verläuft, die Mutter-Kind-Beziehung und die weitere Entwicklung des Kindes?

Das Kind in Ehrfurcht empfangen

Mein erster und wichtigster Rat an junge Eltern ist, eine freudig-erwartungsvolle Beziehung zu dem neuen Erdenbürger zu pflegen – das Kind in Ehrfurcht zu empfangen. Es ist ein vollkommen fremder Mensch, der mit riesengroßem Vertrauen zu den Eltern kommt. Die Eltern sollten das Kind fragen:

Wodurch haben wir das verdient?

Sind wir mit unseren Schwächen der beste Start ins Leben für dich?

Es gibt ein Leitmotiv von Rudolf Steiner:

„Das Kind in Ehrfurcht empfangen, in Liebe erziehen und in Freiheit entlassen.“

Ein Kind ist niemals Besitz seiner Eltern. Diese müssen von Anfang an wissen, dass sie es eines Tages gehen lassen müssen, dass sie mit ihren Erwartungen nicht über seinen Weg bestimmen sollten – z.B. im Alter manches zurückzubekommen, also auf das eigene Wohl bedacht zu sein. Das ist eine Haltungsfrage. Deshalb würde ich das als Erstes ansprechen.

Da kommt ein fremder Mensch in bedingungsloser Liebe – sonst würde er nicht kommen, sonst könnte er das Vertrauen nicht aufbringen – und jetzt ist er gespannt, wie die Eltern darauf reagieren. Die Psychologie sagt heute übereinstimmend mit anderen Wissenschaften, dass eine sichere Bindung zu den Hauptbezugspersonen die allerwichtigste Voraussetzung für Gesundheit und Lebensfreude für die ganze Biografie ist (vgl. Kindsein heute: Gelingende Kindheit durch Schicksalsvertrauen).

Auf gute Bindung achten

Deshalb empfehle ich, dass das Kind in den ersten drei Jahren, in denen die Hauptentwicklung des Gehirns stattfindet und es noch völlig abhängig ist von der Führung durch die Umgebung, bei einem Elternteil zuhause bleiben darf und nicht an eine Einrichtung abgegeben werden muss. Wenn es andererseits nicht anders geht, als das Kind in eine Fremdbetreuung abzugeben, muss man sich so einfühlen in das Kind, dass man nie Ort und Person gleichzeitig wechselt, sondern ihm Zeit lässt, sich gut an die neue Situation zu gewöhnen. Für ein Kind bedeutet der Wechsel von dem vertrauten Ort und der Bezugsperson maximalen Stress durch kompletten Erinnerungsverlust. Es dauert mindestens eine Woche, bis ein Kind sich einigermaßen an eine völlig neue Umgebung angepasst hat.

Aus diesem Grund gibt in den Kinderkrippen die sogenannte Eingewöhnungszeit. Optimalerweise kommt die Erzieherin erstmal ins Elternhaus, sieht wie die Mutter das Kind pflegt, wie die Familie lebt. Sie versucht, etwas von der vertrauten Umgebung des Kindes in sich in Erinnerung zu behalten. In einem nächsten Schritt kommt die Mutter an den fremden Ort, die Krippe, mit und fungiert dort als sicherer Hafen für das Kind. Wenn es sich an den neuen Ort gewöhnt hat, während die Mutter es dort noch versorgte, übernimmt die neue Bezugsperson aus der Krippe schrittweise die Pflege. Wie lange diese Eingewöhnung dauert, ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Das eine lässt sich erstaunlich schnell eingewöhnen, es strahlt Zufriedenheit aus und fühlt sich wohl in der Einrichtung. Ein anderes Kind braucht mehrere Wochen dafür. Das sollte individuell gehandhabt werden. In jedem Fall müssen Kinder eingewöhnt werden und dürfen nicht einfach nur abgegeben werden (vgl. Erziehung: Kontinuität und Wiederholung im Alltag). Das ist eben auch eine Haltungsfrage.

Geburt als Schicksalsfrage

Wenn wir nun ganz an den Anfang zur Geburt gehen, ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass Kinder früher oft an Komplikationen bei der Geburt gestorben sind. Heute dürfen wir sie trotz Komplikationen ins Leben begleiten. Wenn das gelingt, gehört das zum Schicksal des Kindes dazu. Da bahnt sich gleich zu Anfang eine Signatur an, die ausdrückt: Ich setze mich mit Widerständen auseinander, ich setze mich durch, auch wenn ich kein pflegeleichtes, spontan geborenes Kind bin. Das Spannende ist, dass diese Kinder oft sehr energische Typen sind, die gleich bei der Geburt zeigen, dass Hindernisse sie nicht von ihrem Weg abhalten.

Die Frage, ob Kaiserschnitt oder nicht, ist für die Eltern eine sehr sensible Frage. Denn was die Mutter fühlt und denkt, wirkt sich unmittelbar auf das Kind aus, ist für es genauso real, wie das, was sie tut. Was sich also für die Mutter und die Eltern gut anfühlt, fühlt sich auch für das Kind gut an. Wenn eine Mutter Angst hat, keine Schmerzen und kein Leid ertragen will, wird das Kind diese Ängstlichkeit miterleben. Sie wird von ihm nachgeahmt. Wohingegen, wenn eine Mutter sagt: „Liebes Kind, ich halte diese Schmerzen und diese Angst nicht ohne Hilfe aus, aber ich freue mich wahnsinnig auf dich!“, ist durch diese Haltung schon viel gewonnen. Wichtig ist, dass Eltern ehrlich reflektieren, welche Art Umgebung sie aufgrund der eigenen Gestimmtheit für das Kind abgeben.

Wenn sie das ernst nehmen, werden sie zu besseren Menschen, weil sie dann viel bewusster und kontrollierter leben. Wer ein Baby zu Hause hat, wird sich womöglich nicht so schnell besaufen. Das nur als ganz harmloses Beispiel. Wenn die geliebte Bezugsperson ihr Ich ausschaltet oder partiell nicht mehr ganz bei sich ist, ist das kein gutes Vorbild, entsteht dadurch keine gute Atmosphäre.

Wie ein Kleinkind wahrnimmt

Da das Gehirn noch im Aufbau ist und die Sinnesorgane noch unreif sind, können Kinder die physische Welt noch gar nicht rein über die Sinne wahrnehmen. Es dauert drei Monate, bis der Blick sich überhaupt auf einen Punkt fokussieren kann (vgl. Kindsein heute: Der Blick eines drei Monate alten Kindes). Davor schwimmen die Augen und suchen im Umkreis der Eltern. Die Kinder sehen aber noch die Aura eines Menschen, wie sie es aus der spirituellen Welt, aus der sie kommen, gewöhnt sind. Insofern können sie den physischen Leib mit ihren Sinnen noch nicht als etwas Begrenztes sehen. Sie befinden sich noch im Übergang von der geistigen zur physischen Welt. Für sie sind wir geistige, von einer Aura umgebene Wesen. Sehr junge Kinder haben ihre basalen Sinne noch nicht ausgebildet und strampeln deshalb noch unkoordiniert, können auch noch nicht greifen.

Man muss sich in so ein neugeborenes Wesen wirklich hineinversetzen, um das zu verstehen: Einerseits erleben Neugeborene eine Bewusstseinsverdunkelung und andererseits erleben sie noch einen Nachklang von der Seelen- und Geisteshelligkeit, aus der sie kommen. Dieses geistige Licht suchen und finden sie optimalerweise in den Erwachsenen ihrer Umgebung wieder (vgl. Entwicklung: Entwicklung und Lernen ). Rudolf Steiner sagt, die Kinder kommen aus einer guten geistigen Welt und denken, auf der Erde geh es auch gut zu. Deswegen haben sie das Vertrauen, dass sie trotz ihrer Hilflosigkeit aufgefangen werden bei der Geburt.

In der Zeit der Nachahmung im ersten Jahrsiebt finden die sensorische Reifung und die Intelligenzentwicklung statt, in der das Intelligenz- und Willensfundament für die ganze Biografie gelegt wird (vgl. Entwicklung: Stadien der menschlichen Entwicklung). Nie mehr bewegt man sich so viel, wie in den ersten sieben Jahren, nie mehr wächst das Gehirn so stark wie in dieser Zeit. Deshalb ist jede Bewegung, die intelligent nachgeahmt wird, eine positive Reizstimulierung fürs Gehirn.

Schutz bieten vor zu vielen und den falschen Reizen

Es ist wichtig, sich als Eltern bewusst zu sein, dass man die Umgebung für das Kind darstellt, an der es sein Gehirn formt und seine Sinne schult. Man sollte im Umkreis des Kindes deshalb nicht zu viele sensorische und vor allem keine falschen Reize anbieten, möglichst nur Analoges, sollte das Kind nicht maschinellen Geräuschen aussetzen oder Medien, die ständig im Hintergrund laufen.

Als Kinderärztin hörte ich oft, wenn Eltern nachts den Notruf betätigten, sehr laut den Fernseher, das Radio oder einfach Musik laufen. Ich musste die Eltern bitten, leiser zu drehen, um sie überhaupt verstehen zu können. Was soll ein Kind mit solch einer Geräuschkulisse anfangen! Das ist eine Reizüberflutung, zumal es sich auch um keinen analogen Input handelt, der mit dem analogen Gehirn in konstruktive Resonanz gehen könnte. Das machen sich die meisten Menschen nicht klar, dass so etwas eine übergriffige technische Stimulation darstellt, da die Geräusche vom Kind nicht mit aktivem Lauschen und gerichteter Aufmerksamkeit selber ergriffen, sondern wie hineingerammt werden in seinen Organismus. Aktives Lauschen ist etwas völlig anderes. Wir konditionieren auf diese Weise die Gehirne der kleinen Kinder darauf zu reagieren, zu nehmen, was kommt, aber nicht auf Eigenaktivität, Initiative, Selbstentdeckung, Suchen. Das ist das Gegenteil von Autonomietraining.

Vgl. Podcast „Im Gespräch mit Dr. Michaela Glöckler: Vatersein, Haltung moderner Eltern, Ideale und Kompromisse“, März 2024