Den Engel sehen

Können Kinder Engel sehen?

Warum geht den Menschen mit zunehmendem Alter das Wissen von den Engeln verloren?

Kann der Erwachsene wieder lernen, die Engel zu sehen (vgl. Liebe: Liebe zu allen Wesen – Die Welt ist gut)?

Kinder erleben die Engel noch

Für Kinder sind die Engel etwas Selbstverständliches. Wenn ein Kind auf die Straße vor ein Auto läuft und dieses gerade noch anhalten konnte, benützen wir gerne Worte wie: „Da hat der Schutzengel aber gut aufgepasst!“ Das entspricht dem Empfinden, das Kinder von Engeln haben.

Je kleiner Kinder sind, desto weniger besitzen sie die Fähigkeit, das Erleben von sinnlicher und übersinnlicher Welt zu trennen. Erst in dem Maße, in dem ihr Denken abstrakt wird, verlieren sie den unmittelbaren Zugang zu dieser höheren Daseinsebene. Deshalb brauchen und genießen kleine Kinder in bestimmten Stunden eine religiöse, andächtige Stimmung zu Hause, im Kindergarten oder in der Schule. Sie fühlen sich darin geborgen und wie selbstverständlich aufgehoben.

Wenn man einmal von dem Gebrüll absieht, in dem sich der menschliche Eigenwille ankündigt, erleben wir an kleinen Kindern noch viele jener moralischen Qualitäten, die wir Engeln zuschreiben:

  • den offenen, hellen, wachen, manchmal außerordentlich prüfenden Blick, den schon Säuglinge haben können;
  • die Leichtigkeit, mit der sie sich bewegen, wenn sie das Laufen gelernt haben. Manchmal springen sie wirklich so, als hätten sie Flügel;
  • die instinktive Wahrnehmung der Wahrheit – Kinder durchschauen die Lüge eines Erwachsenen, ohne es benennen oder sich bewusst machen zu können.

Kinder sind den Engeln noch näher als wir Erwachsene.

Zugang zum Übersinnlichen durch das Denken

In dem Maße, in dem sich das selbständige Denken entwickelt, das ganz auf die äußeren Verhältnisse der Welt bezogen ist, geht die Fähigkeit verloren, Geistiges wahrzunehmen. Denn die geistige Fähigkeit des Menschen, das Denken selbst, heftet sich ausschließlich an die sinnliche Erfahrung. Man denkt nur, was man sehen kann, und erklärt sich mit Hilfe des Denkens den ganzen Umfang der Sinneserfahrungen. Dadurch verliert das Denken die Fähigkeit, Übersinnliches zu erfassen und zu schauen. Unser Denken ist aber das einzige übersinnliche „Wahrnehmungsorgan“, mit der wir normalerweise umgehen. Wenn wir es nicht zum Innewerden geistiger Tatsachen benützen, können wir eben nichts von ihnen wissen (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen). Sinnliche Augen können sich nur auf Sinnliches richten.

Wir können geistige Tatsachen und Zusammenhänge aber in Selbstgesprächen finden: Wenn wir uns mit uns selbst über unsere inneren Entwicklungsmotive verständigen, können wir Übersinnliches in der Denkbetätigung ahnen. Trotzdem wird man wieder und wieder die Frage haben:

Warum wird es dem Menschen so schwer gemacht?

Es wäre doch viel einfacher, wenn das alles selbstverständliche Realitäten wären, wenn man wüsste, von wo, von welchen geistigen Wesen, die Gedanken ausgehen: von Engeln – oder von anderen Wesen.

Könnten wir die übersinnliche Natur unseres Denkens unmittelbar erleben und die Wahrheit schauen, so müssten wir uns nicht in einem mühsamen Lernprozess Gedanken erarbeiten. Wir wüssten dann schon alles und müssten nicht mehr lernen. Damit würde aber das Menschenleben, so wie es sich in der Gegenwart gestaltet, seinen Sinn verlieren.

Wenn uns nichts mehr schrecken könnte, wenn wir wüssten, was auf uns zukommt und wir uns unserer ewigen Natur immer bewusst wären - in welche Richtung müssten wir uns dann entwickeln?

Welchen Wert hätte Entwicklung?

Was könnten wir dann noch lernen?

Liebe als Brücke zum Engel

Wir müssten uns eine andere Aufgabe suchen. Wir wären eben keine Menschen mehr, sondern Engel. Engel haben andere Entwicklungsbedingungen und andere Aufgaben als Menschen. Für den Menschen ist charakteristisch, dass er sich selbst erst suchen muss; dass er sucht, was er noch nicht hat und sehr oft etwas überwinden oder verlassen muss, was er hat, z.B. eine Eigenschaft wie „Angst“.

Es gibt nur eine menschliche Eigenschaft, die wir schon haben und die wir nie überwinden werden müssen, die wir jedoch durch eigene Anstrengung noch unvorstellbar steigern können: die Liebe. Diese Kraft im Menschen hat teil an der zeitlichen Entwicklung und ist gleichzeitig durch ihren überzeitlichen, ewigen Charakter über diese erhaben.

Die Liebe bringt uns daher auch dem Engel am nächsten. In Augenblicken der Liebe können selbst Menschen, die ganz diesseitig und materialistisch erzogen wurden und nichts mit Religion zu tun haben wollen, Äußerungen tun wie die: „Jetzt kann ich mir vorstellen, was andere Leute meinen, wenn sie von einer geistigen oder göttlichen Welt sprechen.“ Sie erfahren etwas, das sie mit Begriffen des äußeren materiellen Lebens nicht beschreiben können. Solche Augenblicke machen verständlich, warum die Begegnung mit geistigen Wesen, insbesondere mit dem Christus, immer mit dem Bild der Hochzeit, der Liebe, dargestellt wird. Wirklich Mensch zu werden und den Christus zu finden, heißt lieben zu lernen (vgl. Liebe: Liebe als Kulturaufgabe).

Diese Erfahrung kann uns auch verständlich machen, warum man Engel nicht „sehen“ kann. Denn ihre Eigenschaften – Wachsamkeit, Treue, umfassendes Wissen – sind moralische Qualitäten, die man weder mit Händen greifen noch mit Augen schauen kann. Man kann sie nur seelisch erfahren, fühlen oder in Form von Idealen denken (vgl. Gedankenkraft: Engel und Gedankenleben). Den Engel „sehen“ heißt: ihn denkend erleben können. Das kann jeder lernen, der es will.

Vgl. Kapitel „Vom Wirken der Engel im Leben von Kindern und Erwachsenen“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart