Menschliche Defizite kompensieren durch Entwicklungswillen
Inwiefern ist es wichtig, zwischen Tier und Mensch zu unterscheiden?
Worin sind sie begründet?
Worin liegt der Sinn des menschlichen Andersseins?
Welche Herausforderungen und Aufgaben sind damit verbunden?
Verwischte Unterschiede neu erfassen
Der prinzipielle Unterschied zwischen Mensch und Tier wurde als Folge der darwinistischen Evolutionstheorie in den letzten hundert Jahren zunehmend verwischt. Daher ist es wichtig, diesen Unterschied neu zu erfassen, wenn man den Menschen als Mensch und nicht als Tier verstehen möchte.
Dem Tier ist es zwar möglich, sich individuell seelisch zu äußern – keine zwei Hunde gleichen sich in Bezug auf ihr Verhalten vollständig, auch wenn sie dem gleichen Wurf angehören –, aber es ist dennoch keinem einzigen Hund möglich, sich nicht wie ein regulärer Hund zu benehmen. In der tierischen Entwicklung fehlt der Faktor „individuelle Entwicklung“, der mit
- Offenheit,
- Risikobereitschaft,
- Scheitern-Können,
- Aufgeben-Wollen einhergeht
- und der in die Unberechenbarkeit der spezifisch menschlichen Existenz führt
- mit der ganzen typisch menschlichen Selbstfindungsproblematik
- mitsamt ihren Identitätskrisen
- und dem Erreichen des Nullpunktes.
Vielleicht stellen wir Menschen uns deshalb gegenwärtig so gerne auf eine Stufe mit dem Tier, weil wir es insgeheim um seine fraglose Identität und um sein immer artgemäßes Verhalten beneiden. Die weisheitsvollen Gesetzmäßigkeiten der mineralischen Welt, der ätherischen Lebenszusammenhänge und der seelischen Verinnerlichungsmöglichkeiten kommen beim Tier zwar in jedem einzelnen Individuum auch individuell zum Ausdruck, jedoch immer in einer gewissen Vollkommenheit und Selbstverständlichkeit. Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden des Tieres werden von artgemäßen Instinkten bestimmt und können naturgegeben ausgelebt werden. Gerade das ist dem Menschen nicht möglich.
Lange Kindheit als Zeit für Entwicklung
Der Zoologe Friedrich Kipp ist in seinem Buch „Die Entwicklung des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit“ dem Unterschied zwischen Tier und Mensch evolutionsbiologisch nachgegangen.1 Er zeigt auf, dass der Mensch eine im Vergleich zu den Säugetieren charakteristisch lange Kindheit und Jugend hat, mit einer ausgedehnten Spiel- und Lernphase, wodurch seine Fähigkeit, sich lebenslang ändern und anpassen zu können, entscheidend unterstützt wird. Das zeigt: Der Mensch ist auf Selbstentwicklung hin veranlagt. Körperlich hingegen behält er im Vergleich zu den Tieren eine unspezialisierte, embryonal-kindliche Form bei. Dies hat auch entsprechende Konsequenzen für die Erziehung: Kinder, die ausgiebig spielen und kreativ sein durften, bleiben in der Regel auch bis ins hohe Alter beweglich und schöpferisch (vgl. Entwicklung: Wie die Lebenskräfte in Kindheit und Alter zusammenhängen). Je früher hingegen die Kinder in Kindergarten und Schule spezialisiert, konditioniert und verschult und damit festgelegt erscheinen, desto gefährdeter sind sie, später unschöpferisch, angepasst und früher alt und eher krank zu sein.
Daran kann unmittelbar abgelesen werden, dass in den Menschen eine über das Tier hinausgehende, völlig andere Gesetzmäßigkeit hereinragen muss: Eine Gesetzmäßigkeit, durch die er gezwungen ist, die Verantwortung für seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen (vgl. Ethische Fragen: Hans Jonas ethisches Prinzip der Verantwortung), da er sie nicht seinen körpereigenen Instinkten überlassen kann. Die menschliche Entwicklung ist gekennzeichnet von einer größtmöglichen Offenheit und Verwundbarkeit. Alles, worauf das Tier sich weitestgehend verlassen kann – dass es die richtige Wahl der Nahrungsmittel trifft, dass es nicht zu viel und nicht zu wenig isst, dass es sich artgemäß fortpflanzt, dass sein Schlaf-Wachrhythmus geregelt ist, dass sein Sozialverhalten dem entspricht, was man von ihm erwartet –, all das ist beim Menschen nicht von Natur aus gegeben, sondern muss im Laufe des gesamten Lebens nicht nur errungen, sondern auch weiter ausgebildet, kultiviert und „vermenschlicht“ werden vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Die Gottebenbildlichkeit des physischen Leibes). Wie viele Arztbesuche würden entfallen, wenn es keine Ess-, Schlaf- und (sexuelle) Beziehungsprobleme gäbe!
Schon eine so einfache Überlegung macht deutlich, wie revolutionär, wie dramatisch und grundsätzlich der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist. Wenn beim Tier die Geschlechtsreife eintritt, ist sein artgemäßes Verhalten bereits gesichert, und es lebt individuell und sozial in geregelten Bahnen. Beim Menschen hingegen ist die Geschlechtsreife dadurch gekennzeichnet, dass alle noch so gutgemeinten erzieherischen Bemühungen aus den früheren Jahren fruchtlos erscheinen. Eigenes, Unerwartetes macht sich geltend – das ist ein wahrhaft revolutionärer Vorgang.
Entwicklungsoffenheit als Herausforderung und Chance
Mit diesem Eigenen, Unerwarteten, mit dieser Entwicklungsoffenheit hängt aber auch all das zusammen, was besonderen Begabungen und Behinderungen (vgl. Begabung und Behinderung: Sinnfindung bei Krankheit und Behinderung ) zugrunde liegt. Und nur der Mensch muss lernen, mit Begabungen und Behinderungen zu leben und mit ihnen umzugehen, nicht jedoch die ihm seelisch verwandten Tiere. Man hat Skelette von wasserköpfigen Kindern gefunden, die aus der Steinzeit stammten, und hat daraus geschlossen, dass die Fürsorge für behinderte Kinder so alt ist, wie Menschen Behinderungen wahrnehmen und pflegen konnten. Ein behindertes Tier in der freien Wildbahn wird sehr bald vom ökologischen System „verarbeitet“: es stirbt, weil es sich nicht ernähren und verteidigen kann – es wird aufgefressen, ihm kann nicht geholfen werden. So wird auch dafür gesorgt, dass schwerwiegende Behinderungen unter Tieren nicht weitervererbt werden können.
Was könnte ein Tier auch in der Auseinandersetzung mit einer Behinderung gewinnen?
Da ihm das Selbstbewusstsein und die damit verbundene persönliche Betroffenheit fehlen, könnte es damit gar nichts anfangen. Es würde sinnlos leiden. Dem Tier ist es nicht gegeben, durch Leid und Schmerz Erfahrungen zu machen, die es in seiner Entwicklung weiterbringen (vgl. Krankheit: Grundlegendes zum Sinn von Krankheit). Denn es ist von Natur aus zur Vollkommenheit veranlagt. Das kann durch persönliche Anstrengung nicht noch weiter gesteigert werden.
Leid und Schmerz als Lernhilfen
Gerade das ist beim Menschen grundsätzlich anders: Für ihn sind Leid und Schmerz Herausforderungen, denen er sich während seiner ganzen Entwicklung bewusst stellen muss und durch die er Erfahrungen machen kann und Einsichten gewinnen lernt, die durch nichts anderes zu gewinnen sind .
In der Natur zeigt sich das Geistige – wenn es durch menschliche Eingriffe nicht gestört wird – wirksam in den weisheitsvoll aufeinander abgestimmten Regelkreisen der ökologischen Zusammenhänge. Krankheit und Behinderung treten hier nur am Rande als flüchtige Erscheinungen auf, da kranke Pflanzen bald zugrunde gehen, ebenso wie geschwächte und geschädigte Tiere. Demgegenüber besitzt der Mensch die Möglichkeit, mit Krankheiten und Behinderungen unter Umständen jahrzehntelang zu leben und umzugehen. Doch nicht nur das. Bei ihm tritt als entscheidender Faktor etwas hinzu, das bei Pflanze und Tier nicht existiert: innere Krankheitsursachen (vgl. Anthroposophische Medizin: Anthroposophisches und naturwissenschaftliches Krankheitsverständnis). Pflanze und Tier erkranken, wenn die äußeren Lebensumstände ihrer Art nicht mehr entsprechen und wenn in irgendeiner Form nicht zu kompensierende Mangelerlebnisse auftreten, was Nahrung und Klima betrifft. Beim Menschen treten zu diesen schädigenden Einflüssen von außen als entscheidende, spezifisch menschliche Krankheitsursachen innere Ursachen hinzu. Die Kräfte, die beim Menschen als freie, seelisch-geistige Betätigungsmöglichkeiten in Erscheinung treten, entstammen ja Kraftzusammenhängen, die den Leib aufbauen und erhalten. Beim Tier offenbaren sich die entsprechenden Kräfte als leibgebundene instinktive Weisheit und artgerechtes Sozialverhalten. Irrtum und Missbrauch dieser Kräfte sind ausgeschlossen, indem sie der unbewussten Regelung durch das Naturgesetz unterliegen.
Ausgleich des Instinktdefizits durch Lernwillen
Das ist beim Menschen anders. Er hat ein großes Instinktdefizit, einen Mangel an naturgegebener Weisheit, wie sie den Tieren angeboren ist. Dieses Kräftepotential steht stattdessen leibfrei dem Seelen- und Geistesleben zur Verfügung, d.h. der Mensch kann und muss durch aktive Lernprozesse ersetzen, was ihm an Instinkten fehlt. Andererseits hat er dadurch die Möglichkeit, diese vom Leib emanzipierten seelischen und geistigen Entwicklungspotentiale zu missbrauchen zur Zerstörung von sich und anderen. Hiermit gemeint sind nicht nur
die Schädigungsmöglichkeiten, die mit falscher Ernährung, zu wenig Schlaf, einer ungesunden Lebensweise und mangelnder Hygiene zusammenhängen,
sondern vor allem diejenigen Schädigungsmöglichkeiten, die durch ein unwahres Denken, ein destruktives Gefühlsleben und durch fehlgeleitete Willenshandlungen zustande kommen.
Es ist ein langer Entwicklungsweg, bis man reif ist für den freien Gebrauch dieser Seelen- und Geisteskräfte. Die damit verbundenen Lernprozesse sind dadurch störanfällig, dass sich der Mensch geistig, seelisch und auch an Leben und Leib „irren kann“. Darin liegt ein tiefer Sinn. Denn wenn er den zuletzt in Form von Krankheit und Behinderung organisch gewordenen „Irrtum“ erlebt, kann er sich dadurch weiterentwickeln (vgl. Begabung und Behinderung: Sinnfindung bei Krankheit und Behinderung). Auch liegt etwas Trostreiches in dem Gedanken, dass man Fehler und Irrtümer selber als solche erleben und damit die Voraussetzungen schaffen kann, sie selbstständig zurechtzurücken und zu verwandeln. Gerade dabei spielt der Umgang mit Begabung und Behinderung eine wesentliche Rolle.
Verantwortung übernehmen für Entwicklung
Es wäre allerdings einseitig, aus dem Vorgebrachten den Schluss zu ziehen, hier tauche, nur mit neuen Begründungen, die alte Lehre wieder auf, dass Krankheit von Sünde und Fehlverhalten komme. Viel wesentlicher ist es, aus diesen Zusammenhängen die Frage abzuleiten:
Woher kommen Begabungen?
Woher kommen angeborene Fähigkeiten, Genialität?
Könnten sie nicht gerade das Ergebnis durchgemachter Behinderungen und Krankheiten in einem früheren Erdenleben sein?
Wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschen zunehmend empfinden, dass sie selbst für ihre Gesundheit und ihre Entwicklung Verantwortung übernehmen müssen. Dafür sorgt nicht nur der sich anbahnende wirtschaftliche Zusammenbruch der Gesundheits- und Sozialsvsteme, sondern auch, dass der Mensch sich immer stärker als auf sich selbst gestellt erlebt (vgl. Macht: „Die letzte Freiheit des Menschen“ und die Macht-/Ohnmacht-Frage). Angesichts der vielfältigen Folgen menschlichen Handelns in der Natur, der Umwelt und im Wirtschafts- und Sozialleben erkennen wir, dass wir es letztlich selber sind, von denen wir und unsere Umwelt abhängen. Wir sind viel mehr mit den Folgen unserer Taten konfrontiert; sie werden vom Einzelnen viel stärker erlebt als dies noch vor vierzig, fünfzig Jahren der Fall war.
Für die Zukunft wird entscheidend sein, dass möglichst viele Menschen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und aus dieser Einsicht heraus energisch an einer Vermenschlichung der kulturellen Verhältnisse arbeiten (vgl. Mysterien und Initiation: Mysterien des Willens). Auch wenn noch nie so viele Menschen auf der Erde gelebt haben wie gegenwärtig, kann man andererseits auch sagen, dass die Defizite an Menschlichkeit nie so stark in Erscheinung getreten sind wie im letzten Jahrhundert mit seinen endlosen Kriegen, Zerstörungen und epidemischen Zuständen von Unzufriedenheit, Depression und Verzweiflung. Und so ist es kein Wunder, dass sich viele Menschen aufgrund dieser Tatsachen wie an einer Schwelle erleben, an der sie wachgerüttelt werden, sich selbst zu erkennen. Viele empfinden auch eine gewisse Sehnsucht, sich ihre Mitverantwortung für das Ganze bewusst zu machen (vgl. Mysterien und Initiation: Christliche Mysterien – Kultur der Verantwortung und Mitgestaltung).
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 5. Und 6. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
- Vgl. dazu Friedrich A. Kipp, Die Evolution des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit. Stuttgart 1991. Ferner Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch. Stuttgart 1971.