Vom Punktbewusstsein zu peripherer Kompetenz

Wann ist ein Mensch ganz Mensch?

Welche Kompetenzen machen den Menschen aus und wann erwirbt er sie?

Macht der Verlust kognitiver Kompetenzen das Leben nicht mehr lebenswert?

Das Erklimmen des physiologischen Leistungsplateaus

Am Lebensanfang, wenn Kinder klein und unerfahren sind und alle möglichen Dummheiten machen, fällt es uns nicht schwer, sie als werdende Wesen zu begreifen. Selbst wenn sie noch überhaupt keinen Durchblick haben und sich den vernünftigsten Dingen widersetzen, würde niemand von „Demenz junior“ oder „präcox“ sprechen. Wir Erwachsenen vertrauen darauf, dass sich alles finden wird, wir haben Geduld…

Wenn ein Kind elf oder zwölf ist, denkt man, man wäre aus dem Gröbsten draußen, doch jetzt fangen die Probleme erst richtig an. Und spätestens ab dem vierzehnten Lebensjahr wird das Erwachsenwerden zu einer riesigen Herausforderung. Und wenn man meint, die Schulzeit geschafft zu haben, beginnt es mit der Wahl von Beruf und Studium wieder schwieriger zu werden, klappt dieses oder jenes nicht, sind immer neue Herausforderungen zu meistern. Heute leben Kinder mit 28 oder 29 Jahren oft noch zu Hause, stehen noch nicht gänzlich auf eigenen Beinen. Dennoch erwarten wir, dass der junge Erwachsene jetzt selbständig wird.

Die Erfahrung zeigt, dass sich in der Lebensmitte, zwischen 20 und 40, zunehmend ein Gleichgewicht zwischen unseren seelisch-geistigen Kräften, unserer Bewusstseinskompetenz und unserer physischen Kraft einstellt, auch „physiologisches Leistungsplateau“ genannt. Da sind wir körperlich und seelisch im besten Zustand.

Mit 40 erst gescheit

Dennoch haben wir hier in Schwaben ein schönes Sprichwort: „Die Schwaben werden mit 40 erst gescheit.“ Wenn die Kurve sich langsam dem Ende zuneigt, tut sich erst das auf, was man „Sozialkompetenz“ nennt, was man in Schwaben unter „Gescheitheit“ versteht: dass man das Leben nicht nur auf sich bezogen begreift, sondern dass man sich auch vom Umkreis her begreift – als jemanden, der agiert, zugleich aber auch als jemanden, mit dem andere zurechtkommen müssen:

  • Man begreift sich einerseits als individuelles Wesen, das die Welt vom eigenen Standpunkt aus betrachtet,

  • Gleichzeitig erlebt man sich aber auch als soziales Wesen mit einem Umkreis, das von diesem wahrgenommen und „ertragen“ wird.

Diese beiden Sichtweisen decken sich, wenn es gut geht, erst etwa mit 40 Jahren. Erst dann erwacht auch der Sinn für das eigene soziale Wesen und die damit verbundene Verantwortung.

Von der Selbstbezogenheit zur Umkreisbezogenheit

Diese Entwicklung hängt mit dem Aufbau unserer Konstitution zusammen:

  • Der Kind-Mensch ist ein auf sich als Zentrum hin orientierter Mensch, der seinen Standpunkt, seinen Blickwinkel, seine akustischen Eindrücke als zentral erlebt. Er hat ein extremes Punktbewusstsein.

  • Der Erwachsene, der für andere tätig ist, der für andere etwas tut, auf den etwas zukommt, auf den andere Menschen reagieren müssen, braucht eine große „periphere Kompetenz“, ist als tätiger „Gliedmaßen-Mensch“ gefragt. Er hat ein ausgeprägtes Umkreisbewusstsein.

Dazu ein Beispiel: Die älteste Frau, die ich zurzeit kenne, ist 106 Jahre alt. Sie ist völlig fit und sagte mir, sie hätte noch eine Aufgabe: Sie würde die jungen Pflegenden auf der Pflegestation motivieren und ihnen den Sinn des Lebens nahebringen, weil sie heute ja solche Probleme hätten. Das gibt es auch: 106 Jahre und kein bisschen dement. Natürlich braucht sie Gehhilfen, bewegt sich ganz vorsichtig und muss viel liegen. Man merkt, Seele und Geist können sich kaum mehr in diesem Körper halten, sind aber noch voll präsent.

Rückzug des zentral orientierten Menschen in der Demenz

Tritt zu einem bestimmten Zeitpunkt Altersdemenz auf, ist es gleichgültig, ob es sich um eine vaskuläre, eine neurogene oder eine primär metabolisch veranlagte Demenz handelt – das macht nur medizinisch einen großen Unterschied. Von der Symptomatik her wird ein totaler Rückzug des zentral orientierten Menschen erlebbar. Der peripher orientierte Mensch ist dafür umso wacher, umso sensibler, umso empfänglicher. Es ist keineswegs gerechtfertigt zu sagen, dass unser Leben, wenn das Punktbewusstsein nachlässt und der Egotrip nicht mehr dominiert, nur ein „Leben zweiter Klasse“ ist oder sogar, dass es gar nicht mehr „lebenswert“ ist (vgl. Demenz: Die positive Botschaft der Demenz).

Die anthroposophische Menschenkunde kann im Hinblick auf diese Zusammenhänge wertvolle Orientierung geben.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, Filderstadt, 19.2.2010