Erziehung und Vorbild

In einer Zeitungsbeilage fand ich den Bericht „Ist gutes Benehmen noch gefragt?“. Dort hieß es: „Gute Lebensformen lernt man am besten im Umgang mit Menschen, genauer gesagt durch gute Vorbilder.“ Entscheidend ist jedoch, dass der Erwachsene wirklich Vor-Bild ist und dem Kind nicht permanent sagt, wie es sich vorbildlich verhalten soll. Genau da liegt heute das Problem: Viele Eltern missachten das Entwicklungsgesetz, dass im Vorschulalter die Nachahmung über die Sinne geht und nicht über das Sprachverständnis. Im Vorschulalter steht eindeutig die nonverbale Erziehung im Vordergrund.1 Man kann selbstverständlich seine Handlungen in Gegenwart des Kindes mit Worten begleiten (was dann nebenbei die Sprachentwicklung begünstigt), das Wirksame ist jedoch die Handlung selbst, das heißt die vollmenschliche Realität. Je weniger in diesem Alter geredet wird – Mach dies so, lass das, ich habe dir doch schon so oft gesagt etc. –, um so freier fühlt sich das Kind, das zu lernen, was es sieht und interessant findet und was vom Erwachsenen ja deshalb getan wird, weil es sinnvoll und im Augenblick angebracht ist.

Erziehung über Wort und Erklärung sollte erst dann beginnen, wenn die natürliche Nachahmungsfähigkeit am Ende des ersten Jahrsiebtes abklingt und das Kind diese einmalige Begabung verliert, vollmenschlich-intuitiv aufzunehmen, was der Erwachsene denkt, fühlt und tut. Es gehört ja zu den erschütternden Erfahrungen im Umgang mit Kindern, dass sie nicht nur das miterleben und nachahmen, was sie äußerlich an Handlungsabläufen wahrnehmen. Sie ahmen auch die seelische und geistige Haltung des Erwachsenen nach, der mit ihnen umgeht.

In der Kindersprechstunde konnte ich oft erleben, dass die beschwörenden Worte, das Kind müsse keine Angst haben, nicht gehört wurden. Vielmehr weinte ein Kind, weil es die Spannung der Mutter miterlebte, die genau wusste, dass eine Spritze fällig war und nun Angst hatte, es könnte dem Kind weh tun.

Kleine Kinder haben noch ein unmittelbares Empfinden für Wahrheit und Lüge, für das, was der Erwachsene eigentlich meint. Sie finden z.B. sehr schnell heraus, ob ein ausgesprochenes Verbot tatsächlich als Verbot gemeint ist oder nur als ein Angebot, ein provozierendes Spiel zu beginnen. Kinder provozieren unter Umständen so lange, bis sie herausgefunden haben, ob der Erwachsene tatsächlich meint, was er sagte, oder ob er „umfällt“. Ist das Verbot von vornherein vollkommen ernst gemeint, bleiben die Provokationen in der Regel aus, weil das Kind sogleich spürt, dass es mit seiner Opposition keine Chance hat. Dann erntet der Erwachsene allenfalls ein vorübergehendes Maulen des nicht Einverstanden-Seins und die Sache kommt schnell zur Ruhe. Es kommt darauf an, wie der Erwachsene mit sich selbst umgeht, ob er Vorbild ist z.B. im Umgang mit Konflikten. Wenn er nur stark ist in den kleinen Konflikten mit dem Kind und sich da dominant zeigt, seine eigenen Probleme aber nicht im Griff hat, wird er das Kind nicht zur Konfliktfähigkeit erziehen können (vgl. Konfliktfähigkeit: Erziehung zur Konfliktfähigkeit) , da es in diesem Falle höchstens die Überlegenheit des Erwachsenen wahrnimmt.

Orientierung am Ideal

Kleine Kinder verlangen eine tägliche Schulung in Selbstbeherrschung von ihren Eltern und Erziehern, damit diese ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden können (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Notwendige Selbsterziehung im Seelischen). Täglich werden Erfahrungen gemacht, die Wut und Ärger hervorrufen könnten: Die Garageneinfahrt ist zugeparkt, die Straßenbahn ist davongefahren, der Veranstaltungsbeginn wird verpasst, weil dieser oder jener zu lange gebraucht hat. Auf der Autobahn muss man scharf bremsen, weil ein überholendes Auto knapp vor einem einschert usw.

Wie geht man damit um?

Man bemüht sich vielleicht, seine Wut zu kontrollieren und die Vernunft einzuschalten, aber man erlebt doch auch immer wieder, dass man dem aufwallenden Ärger nicht Einhalt gebieten konnte. Man merkt, wie rasch man unter Belastung die Kontrolle verliert.

In diesem Zusammenhang ist es tröstlich zu wissen, dass Kinder sich am Bemühen des Erwachsenen, sich zu beherrschen und eigene Entgleisungen zu bemerken, orientieren, nicht an den Ergebnissen oder Fehlern. Es nimmt die Art und Weise wahr, wie der Erwachsene mit seinem Gelingen und Misslingen umgeht. Es schätzt seine Ich-Anwesenheit und ahmt sie nach. Das Kind nimmt als Vorbild, was der Erwachsene selbst hat und was als Gewissensstimme oder Lebensideal in ihm lebt, auch wenn er diesem noch lange nicht entspricht.

Kindliche Wahrnehmung von Idealen

Wenn also Erwachsene in der Erziehung zur Konfliktfähigkeit für ihre Kinder Vorbild sein wollen, können sie das nicht etwa deshalb, weil sie selbst schon konfliktfähig und vorbildlich sind – das ist nur selten der Fall. Sie können es aber durch das Lebensideal, das sie in sich tragen, an dem sie ihr eigenes Handeln unausgesetzt orientieren. Weil wir Menschen sind, wissen wir, was menschlich ist – selbst wenn wir es vielleicht nur fühlen und nicht im Einzelnen formulieren können. Wesentlich ist, dass wir es fühlen, dass es in uns anwesend ist, und dass das Kind es an unserem Verhalten wahrnehmen kann.

Gerade Kinder, die oft erleben, dass sie noch sehr viel lernen müssen, fühlen sich tief verstanden und bestätigt, wenn sie erleben, dass der Erwachsene auch ein Lernender ist. Die Gefahr, in der Vorbildfunktion eitel zu werden oder seine Übermacht auszuspielen, kann nur dadurch wirksam gebannt werden, dass man sich klarmacht, dass im Kind, ihm selbst noch verborgen, dasselbe Vorbild lebt wie im Erwachsenen, und dass man mit ihm diesbezüglich auf einer Stufe steht. Die so wichtige Fähigkeit, sich allen Menschen auf der menschlichen Ebene gleichgestellt zu erleben und keine Unterschiede zu machen nach Rang, sozialer Stellung, Alter und Geschlecht, diese wahrhaft soziale Lebenseinstellung kann sich nur ausbilden, wenn der Erwachsene sie dem Kinde auf partnerschaftliche Weise vorlebt.

Altersentsprechendes Vorbild

Die Entwicklungsstadien im Vorschulalter, Schulalter und in der Jugendzeit brauchen alle das Vorbild – nur jeweils auf einer anderen Ebene:

  • Das Vorschulkind braucht das Vorbild durch die Handlung, die Tat, das „Sein“. Es stellt damit die höchsten Ansprüche an den Erwachsenen.
  • Das Schulkind braucht das Vorbild im Wort. Es muss erleben, dass das Wort gilt und dass es zu den vom Erzieher und Lehrer beschriebenen Sachverhalten hinführt. Am leichtesten ist das in der Mathematik zu verstehen. Ohne Erklärung seitens des Lehrers kann das Kind nicht verstehen, letztlich lernt es jedoch, selbst mit der Sache umzugehen. Autorität wird von Kindern immer akzeptiert, wenn sie sachlich begründet ist und sich nicht auf persönliche Sympathie oder Antipathie stützt.
  • Im Jugendalter muss der Heranwachsende für seine eigene Weiterentwicklung Erwachsene erleben können, für die die Wahrheit bzw. die Suche nach Wahrheit der Maßstab in ihrem Denken ist. Nun ist nicht mehr der Erwachsene, der etwas erklärt und zu einer Sache hinführt, das Vorbild bzw. die führende Autorität, sondern das Erkenntnisproblem an sich als Wahrheit, die es zu verstehen gilt. Der Jugendliche muss den Erwachsenen angesichts der Wahrheit genauso als Fragenden erleben, wie er selbst ein Fragender ist. Gute Fragen stärken das eigene Denkvermögen und fördern die Selbständigkeit auf diesem Gebiet.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 10. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997**

  1. Vgl. dazu auch das Kapitel Nonverbale Erziehung in: Michaela Glöckler, Elternsprechstunde. Stuttgart, 8. Aufl. 2008.