Ethische Fragen als Schwellenfragen

Welche tiefere Bedeutung haben Fragen zur Ethik in der Medizin?

Ärztliches Handeln will immer ethisches Handeln sein. Die Tatsache, dass sich öffentliche Diskussionen, oder der Rat von Ethik-Kommissionen, nur mit Themen rund um die Schwelle zwischen Tod und Leben befassen, oder wenn Eingriffe in das Karma eines anderen Menschen vorliegen, macht zweierlei deutlich: Zum einen zeigen diese Reaktionen, dass sich ein Schwellenbewusstsein zu regen beginnt, dass der einzelne aber Ohnmacht verspürt, weil er sich auf diesem Gebiet noch nicht genügend zurechtfinden kann. Zum anderen zeigen diese selektiven Reaktionen aber auch, wie oft im ärztlichen oder therapeutischen Alltag Entscheidungen einfach gefällt werden, weil man die üblichen Therapierichtlinien befolgen und sich eben so verhalten muss, oder weil andere Kollegen es so machen. In diesen Situationen wird die ebenfalls vorhandene Schwelle nicht mit derselben Deutlichkeit empfunden, weil man sich auf bewährtem, sicherem Boden wähnt. Man stellt sich nicht die Gewissensfrage:

Weiß ich denn wirklich, was ich tue?

Es ist interessant zu sehen, wie sich in der Ethikliteratur heute – insbesondere zur medizinischen Ethik – die Einsicht durchzusetzen beginnt, dass es im Grunde keine kollektiven, allgemeingültigen gesellschaftlichen ethischen Normen geben kann (vgl. Erziehung: Normalität und Norm in der kindlichen Entwicklung), sondern nur die individuelle Entscheidung zählt. Man könne zwar beratend zur Seite stehen bei solchen Entscheidungsfindungen – letztlich müssten sie jedoch vom Betroffenen selbst getroffen werden, oder so weit wie möglich in seinem Sinne, wenn er selbst dazu nicht mehr in der Lage ist1. Hinter den weltweiten Diskussionen über Ethik in der Medizin rumort das unbewusste Schwellenerleben und drängt durch das Bearbeiten der ethischen Fragestellungen in das Bewusstsein hinauf (vgl. Schwellenerfahrung: Symptome des unbewussten Schwellenübertritts). Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die weckenden und hilfreichen Gedanken der Anthroposophie in das Gespräch unter Zeitgenossen mit einzubringen, vor allem aber, ob es gelingt, das Wissen um Reinkarnation und Karma (vgl. Schicksal und Karma: Konsequenzen von Handlungen und Lebensgewohnheiten für den weiteren Verlauf des Schicksals) so mit den ethischen Fragen zu verknüpfen, dass sie zu bewusst erlebten Schicksalsfragen werden können2.

Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993**

  1. Vergl. Eberhard Amelung, Ethisches Denken in der Medizin, Heidelberg, 1992, Seite 20ff;
    F.J. Illhardt, Medizinische Ethik, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo, 1985.
  2. Vergl. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.