Hans Jonas ethisches Prinzip der Verantwortung

Was ist das Neue an Hans Jonas Gottesbild?

Was verlangt es vom modernen Menschen?

Hans Jonas Glaubenskrise

Hans Jonas, jüdischer Forscher und Philosoph, war ein Überlebender des Holocaust1 und wurde nach dem Krieg der Ethik-Philosoph des 20. Jahrhunderts, der mehr als eine Generation prägte. Wie es dazu kam, legte er in einem berühmt gewordenen Aufsatz dar.2

Durch den Holocaust verlor er seine geliebte Mutter in den Gaskammern von Ausschwitz und durchlebte eine an den Grundnerv seiner Existenz rührende Glaubens-, Gewissens- und Identitätskrise. Denn nichts unterminiert den Glauben mehr, als wenn man dem Bösen ausgesetzt ist. Dazu kommt, dass Gott nach der jüdischen Glaubensvorstellung keinen gerechten Menschen straft. Hans Jonas Mutter war der beste Mensch gewesen, den er gekannt hatte. Dass sie in den Gaskammern von Ausschwitz auf so menschenverachtende Weise zu Tode kommen konnte, war für ihn schlicht unbegreiflich und unerträglich und stellte sein gesamtes Gottesbild und seine bisherigen Überzeugungen in Frage.

Suche nach einem neuen Gottesverständnis

Doch als Philosoph begann er darüber nachzudenken, worin sein Glaube in früheren Zeiten wurzelte und warum er ihn völlig verloren hatte. In dem genannten Essay führt er nun aus, dass er plötzlich einen rettenden Einfall hatte. Wenn wir am Ende „unseres Lateins“ sind, sind wir offen für Neues. Dann können wir Gedanken entwickeln, die uns sonst nicht gekommen wären, weil wir normalerweise völlig besetzt sind von unserem eigenen Denken, unserer Meinung, unseren Urteilen und wenig empfänglich für einen neuen Gedanken. Hans Jonas fragte sich in dieser Krise, wie er neue Zielvorstellungen und einen neuen Sinn finden und ein neues Gottesverständnis entwickeln könnte. Denn die alten Vorstellungen von Gott passten nicht mehr. Sein Eindruck war, dass sich die Beziehung Gottes zu den Menschen, völlig gewandelt hatte. Seine bisherigen Glaubenssätze lauteten:

  • Gott weiß, was geschehen soll, was gut ist für den Menschen – er ist allwissend.

  • Gott hält die Schöpfung und jedes Wesen in Händen – er ist allmächtig.

  • Gott ist Quelle von Schönheit und Liebe auf Erden- er ist allumfassende Liebe.

Sinn von Gottes Verzicht auf Allmacht und Allwissen

Ihm wurde angesichts dieser Prinzipien klar, dass sich in Gott eine große Wandlung vollzogen haben musste: Gott könne nicht mehr allmächtig sein, er muss seine voraussehende Weisheit aufgegeben habe. Ein allmächtiger Gott hätte den 2. Weltkrieg und den Holocaust mit seinen 50 Millionen Toten verhindert, hätte Wege gefunden, diese Katastrophe nicht geschehen zu lassen. Er muss also seine Macht bewusst an die Menschen abgegeben haben, aus dem Wunsch heraus, dass sie auf der Erde herrschen und vor allem sich selbst beherrschen lernen. Dass wir Menschen das noch nicht können, sähe man an den Katastrophen. Wir müssen erst lernen, die göttliche Macht nicht zu missbrauchen, sondern sie verantwortungsvoll zu handhaben.

Entsprechend verfüge Gott auch nicht mehr über Allwissen und Voraussicht, weil der Mensch selber lernen müsse zu wissen, was er tut.

Gott sei ein Gott der Ohnmacht geworden und leide unendliche Qualen, weil er mitansehen müsse, was wir mit unserer Macht und unserem Wissen alles auf der Erde anstellen. Da die Erde aber ein Ort sei, wo sich Freiheit entwickeln solle, müssen diese Übel solange walten, bis genügend Menschen aufgewacht seien für Möglichkeiten, anders damit zurechtzukommen. Nur so sei zu verstehen, warum es so viel Leid und so viele Probleme in der Welt gebe. Weil wir sonst nicht erkennen würden, dass jeder einzelne von uns dazu aufgerufen ist, sich zu bemühen, den Sinn der irdischen Existenz zu verstehen und herauszufinden, wie wir unsere Lebenszeit und unsere Entwicklungsmöglichkeiten auf bestmögliche Art nützen können. Wäre Gott allwissend und allmächtig geblieben, ein Gott der alles regelte, alle beschützte und die Welt in Ordnung hielt, könnte sich diese Entwicklung nicht vollziehen.

Es stimmte Hans Jonas extrem traurig zu sehen, wie wenige Menschen diese Tatsache begriffen, wie negativ sich das 20. Jahrhundert entwickelte, wieviel Zerstörung und Missbrauch stattfanden. Seine Philosophie vom „Prinzip der Verantwortung“ soll die Menschen aufwecken für die Tatsache, dass die göttliche Welt den Menschen die Verantwortung für alle weitere Entwicklung übergeben hat – für die Erde, für die Heimat, für das eigene Leben.

Gottes ungebrochene All-Liebe

Hans Jonas erkannte aber auch, dass es einen Bereich gab, in dem Gott die Menschheit niemals verlassen hatte und es auch nie tun würde – das war ihm ein großer Trost: Durch Geburt und Tod und das ganze Leben hindurch bleibt ER die Kraft, die sich mit Weisheits- und Machtverzicht vereinbaren lässt: allumfassende Liebe.

In dem Essay mit dem Titel „Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme“3 stellte Hans Jonas die Frage:

Wo war Gott, als Ausschwitz geschah?

Er fand selbst folgende Antwort: Gott war als Gott der Liebe die ganze Zeit in Ausschwitz anwesend – denn Liebe schränkt die Freiheit des anderen nicht ein. Er war überzeugt, dass Gott seiner Mutter und allen anderen nahe gewesen war und dass sie mit Gottes Beistand gestorben waren. Seinem neuen Gottesverständnis nach blieb Gott den Menschen auch dann innerlich nahe und für sie erreichbar, als äußerlich die Zerstörungskräfte über sie hereinbrachen. Sie spürten die Gegenwart Gottes und wurden durch den Tod hindurch in das Leben danach getragen.

Seine All-Liebe gab Gott die Macht, die Menschen überallhin zu begleiten, in allen Lagen bei ihnen zu sein. Nur deshalb war ER bereit das Risiko einzugehen, die Menschen freizugeben, damit sie selbst rational und sinnvoll denken lernen und die Kraft entwickeln konnten, eigenständig zu handeln. Die Gefahr, die mit der menschlichen Freiheit einhergeht, wurde durch die Liebe Gottes ausbalanciert. Von einigen, die dem Tode entkamen, wissen wir, dass sie Initiationserfahrungen durchmachten und anstatt schwer geschädigt zu werden für den Rest des Lebens, begegneten sie Gott in dieser Todesnähe, erlebten dort eine Art Einweihung.

Vgl. Vortrag „Ursprung und Ziel von Gesundheit“, Dornach, April 2007

  1. Kurzbiogrphie und Schriftenverzeichnis unter www.hans-jonas-zentrum.de.
  2. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp 1979.
  3. Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme. Suhrkamp, Frankfurt 1987.