Zum Schwangerschaftsabbruch

Wie steht die Anthroposophie zum Schwangerschaftsabbruch?

Das Gespräch über den Abtreibungsparagraphen zeigt, in wie hohem Maße, auch am Tor der Geburt, das Bewusstsein des Stehens an der Schwelle zur geistigen Welt verdunkelt ist. Gerade dieser „Strafparagraph“ offenbart phänomenologisch in größter Deutlichkeit die Möglichkeiten und Grenzen, die das Aufstellen kollektiver ethischer Normen heute hat1.

Rudolf Steiner sagte wiederholt, dass es ein Wort gibt, das zu hören Ahriman2 nicht erträgt: Es ist das Wort „Ungeborenheit“.3 Die Fragen und Schmerzen, die diejenigen bewegen, die Zeugen einer Abtreibungssituation sind, lenken das Bewusstsein auf die Welt der Ungeborenen. Sterben hängt mit dem Egoismus des Menschen zusammen, wohingegen das Geborenwerden mit dem Altruismus verbunden ist, den Ahriman flieht. Bei der Geburt ist noch völlig ungewiss, wer und was mit dem Neugeborenen auf uns zukommt, das an die Hilfsbereitschaft, an die Liebe und Hingabe der Umgebung appelliert.

Seelendramatik unseres Zeitalters

Ich möchte an dieser Stelle Frits Wilmar zu Wort kommen lassen. Er hat die Diskussion um die Novellierung des Abtreibungsparagraphen bis zu seinem Tode mit größtem Interesse und warmer Anteilnahme verfolgt. Es lag ihm gänzlich fern, hier eine richterliche Stellung einzunehmen. Vielmehr stand ihm die ganze Seelendramatik des materialistischen Zeitalters vor Augen, das sich durch Schuld und Schmerzen zum Schwellenbewusstsein hindurch ringen muss (vgl. Schwellenerfahrung: Die Schwelle zur geistigen Welt). Als Arzt fühlte er sich verpflichtet, die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das vorgeburtliche Leben und die Menschwerdung den Menschen heute zur Verfügung zu stellen und diese Erkenntnisse milde und klärend in das heutige Bewusstsein hineinleuchten zu lassen. Er schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch „Vorgeburtliche Menschwerdung“4:

„Aus bestimmten Gründen, die mit ihren vergangenen Erdenschicksalen zusammenhängen, (...) bekommt die Seele nach einer längeren Zeit des Aufenthaltes und Wirkens im ‚Geisterlande den Impuls zu einem neuen Erdenleben. Sie wendet sich unter der Führung der höheren Wesen des Geisterlandes allmählich einem künftigen Erdendasein zu. (...) Wenn dieses Geschehen seinen Anfang nimmt, muß die Geistseele des Menschen erleben, dass der Geistkeim des physischen Leibes ihr von den höheren Mächten genommen wird, dass dieser sich von ihr entfernt, und unter der Führung der höheren Mächte sich der Erdensphäre zu nähern beginnt. Er beginnt sich dazu als Kraftwesenheit zu konzentrieren. Er nimmt gewissermaßen an Umfang ab. Während dessen ändert sich das Bewusstsein der sich noch im Geisterland befindenden Geistseele des Menschen, dem Inhalte und auch der Richtung nach. Sie fängt nun an, sich wieder als Einzelwesen zu erleben. Dieses Erleben wird alsbald wieder erfüllt mit all dem, was an Unvollkommenheiten und Makeln die andere Seite der Ergebnisse des vorigen Erdenlebens ausmachte. Die geistigen Hierarchien gestalten nun am neuen Seelenleib (Astralleib) der Individualität in dem Sinne, dass alles dasjenige, was von der Weltenlenkung zeitweise zurückgewiesen und in der Seelenwelt als ‚Substanz‘ im Wesen bestimmter geistiger Hierarchien aufbewahrt wurde, von jetzt ab dem Menschenwesen für das kommende Erdenleben einverleibt wird. Es wird solcherart umgestaltet. dass es die Impulse und die Kräfte zum Ausgleich der Unvollkommenheiten aus dem vorigen Erdenleben in sich enthält. Diese Impulse werden dem MenschenIch während des Erdenlebens teils von innen her als seine leibliche Konstitution, teils von außen her als seine Schicksale entgegentreten, zumeist völlig unbewusst für das gewöhnliche wache Tagesbewusstsein.“

Der Haltung des willkürlichen Umgangs mit der Schwelle der Geburt, in den völlig gegensätzlichen Ausprägungen von Schwangerschaftsabbruch und künstlicher Befruchtung, hält er die Ergebnisse der Geistesforschung und seiner menschenkundlichen Untersuchungen entgegen. Er sucht das Gespräch unter Zeitgenossen und zeigt uns vorbildlich, wie wir das Anliegen der Anthroposophie, Schwellenbewusstsein im individuellen Menschen wachzurufen, zur Wirksamkeit bringen können, um zur Verantwortungsbildung und wahren Selbstfindung des einzelnen Menschen beizutragen. Auch sei an dieser Stelle auf die von Max Hoffmeister zusammengestellten Erkenntnisgrundlagen zur Frage der Empfängnisregelung verwiesen5.

Ethische Grundsatzfragen

Nur wenige Äußerungen Rudolf Steiners zur Frage des Schwangerschaftsabbruches sind uns überliefert. Im Rundbrief an die Jungmediziner vom 11. März 1924 führt er jedoch etwas Grundsätzliches aus, das die karmische Realität dieser Fragestellung betrifft:

„Auf die Frage, ob man bei einer Schwangerschaftsunterbrechung, die man zur Rettung der Mutter6 vornimmt, in das Karma der Mutter und in das Karma des Kindes eingreift, ist zu sagen: Dass beide Karmas zwar in kurzer Zeit in andere Bahnen gelenkt, aber bald wieder durch den Eigenverlauf in die entsprechende Richtung gebracht werden, so dass von dieser Seite von einem Eingreifen in das Karma kaum gesprochen werden kann. Dagegen findet ein starker Eingriff in das Karma des Operierenden statt. Und dieser hat sich zu fragen, ob er vollbewusst auf sich nehmen will, was ihn in karmische Verbindungen bringt, die ohne den Eingriff nicht dagewesen wären. Fragen dieser Art sind aber nicht generell zu beantworten, sondern hängen von der Besonderheit des Falles ab, gleich manchem, das ja auch im rein seelischen Kulturleben einen Eingriff in das Karma bedeutet und zu tiefen, tragischen Lebenskonflikten führen kann.“7

Wir kennen keine Äußerung Rudolf Steiners zum willkürlichen Schwangerschaftsabbruch. Er stellt keine medizinisch notwendige Fragestellung dar. Vielmehr liegt in jedem einzelnen Fall eine Schicksalstragik vor, die von außen nur schwer zu beurteilen ist. Angesichts dieser Tragik wird nur eines wirksam weiterhelfen: um die spirituelle Seite der Inkarnation und die Realität des Karma zu wissen. Das Bewusstsein für diese Realität in die Kultur zu bringen, ist unsere Aufgabe.8

Wie würden Ärzte beratend um das Leben jedes Kindes kämpfen, wenn sie ahnten, was sich für sie selbst karmisch aus dem Schwangerschaftsabbruch ergibt!

Die Grundsatzfragen der Ethik werden immer lauten:

Weiß ich, was ich tue?

Kann ich zu den Folgen stehen und Verantwortung übernehmen?

Turbulente Zwischenphase der Entwicklung

In seinen Ausführungen zu den geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen Rudolf Steiners macht uns Max Hoffmeister noch auf eine sehr aktuelle Frage aufmerksam, die hier auch angesprochen sei, weil sie in direkter Beziehung steht zu dem ,hygienischen Okkultismus. Rudolf Steiner sagt, dass diese Fähigkeit nicht lange auf sich warten lassen werde. Diese „mittlere“ Fähigkeit, die mit der Spiritualisierung des Denkens zusammenhängt, muss der Entwicklung der eugenetischen und der mechanischokkulten Fähigkeiten vorausgehen, damit diese in die richtigen Bahnen gelenkt werden können. Man kann den Eindruck haben, dass die Entwicklung in Ost und West schneller gegangen ist, aber aufgrund der noch nicht ausreichend entwickelten hygienischokkulten Kraft der Mitte erst einmal im materialistischen Zerrbild erscheint. Und so steht die im Osten (China, Japan) per Gesetz gehandhabte Empfängnisregelung und Abtreibungspraxis der immer perfekteren Maschinenwelt des Westens gegenüber, die zunehmend mit Seele und Geist der Menschen zusammenwächst, die tagtäglich mit Computern arbeiten oder sich seelisch von der Vergnügungstechnologie manipulieren lassen. Max Hoffmeister schreibt hierzu in seinen Kommentaren zu den Ausführungen Rudolf Steiners:

„Wenn man so versucht, aufgrund einer spirituellen Weltanschauung, wie sie in der Anthroposophie diesen Ausführungen ja zugrunde liegt, immer wieder in dieser Fragestimmung den Mitmenschen gegenüber zu leben, ahnt man, wie solche Fragestimmung eine erste Voraussetzung dafür ist, die eugenetischokkulte Fähigkeit zu erwerben, wodurch es später einmal möglich sein wird, eine Empfängnisregelung vollziehen zu dürfen. Dann erledigt sich zukünftig die Frage von selbst, ob die Elternpersönlichkeiten frei sind in ihrer Entscheidung, eine Konzeption eintreten lassen zu wollen oder nicht. Aber heute befinden wir uns offensichtlich in einer Zwischenphase der Entwicklung, die auf allen Lebensgebieten turbulent, chaotisch ist. Durch die vielen Empfängnisverhütungen und Abtreibungen gelangen die Kinder nicht mehr zu ihren ursprünglich einmal vorgesehenen Eltern. Der Eindruck, den Rudolf Steiner hatte, dass die Menschenkeime durch den Astralraum eilig hin und herschießen, um ein einigermaßen passendes Elternpaar für ihre Inkarnation zu finden, dürfte darauf hindeuten und scheint heute wohl tatsächlich der vorherrschende zu sein... .“9

Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993**

  1. Glöckler/Schily/Debus, Lebensschutz und Gewissensentscheidung, Stuttgart 1992;
    Stellungnahme zur Neufassung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, Stuttgart, 1992;
    Friedwart Husemann, Ethischer Individualismus und Schwangerschaftsabbruch, Das Goetheanum 13/1993;
    Werner Hassauer, Freiheit und Notwendigkeit beim Schwangerschaftsabbruch, Das Goetheanum 31/32, 1992.
  2. Anm. d. Autorin: Ahriman ist diejenige geistige Macht, die den Menschen denkend, fühlend und wollend an die Materie fesseln will.
  3. Rudolf Steiner, Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung, Vortrag vom 13. März 1921. GA 203.
  4. Frits Wilmar, Vorgeburtliche Menschwerdung, Stuttgart 1991, Seite 28ff.
  5. Max Hoffmeister, Die übersinnliche Vorbereitung der Inkarnation, Basel 1979.
  6. Hervorhebung durch die Verfasserin.
  7. Rudolf Steiner, Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst, GA 3I6, 1987, Anhang, Erster Rundbrief vom 11. März 1924.
  8. Vergl. Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120.
  9. Frits Wilmar, Vorgeburtliche Menschwerdung, Stuttgart 1991, Seite 127.